Lucerne Valley (USA, California) (GPS: 34°23,249'N; 116°31,869'W)
Ein glückliches und zufriedenes, vor allem gesundes Neues Jahr wünsche ich allen Lesern!
"Ein umfangreiches Tiefdruckgebiet überquert in der Neujahrsnacht den Süden Kaliforniens und bringt zum Teil heftige Schneefälle bis ins Tal!" So liest sich vor zwei Tagen der Wetterbericht für die Region rund um Palm Springs, die Stadt, die seit Jahrzehnten die 'Wärmflasche' für verfrorene Canadier und Nordamerikaner ist, die Schnee und Eis zu Hause entfliehen wollen. - Und nun so etwas! Seit Tagen schon fegt ein eisiger Nordwind durch die Täler. Von den Gipfeln der San Jacinto Mountains grüßt eine dicke, weiße Schneehaube. Vereinzelt sieht man Mutige mit dem Snowboard unterm Arm auf dem Weg zur Bergbahn. Die meisten aber kuscheln sich in warme Daunenanoraks. Mütze und Handschuhe sind oberste Bürgerpflicht. Der dicke Schal lässt nur die rote Nasenspitze hervorlugen!
Für mich schließt sich damit ein Wetterkreis: vor einem dreiviertel Jahr startete ich die Nordamerika-Etappe bei ähnlichen Minus-Temperaturen. Oben in Canada. Dort allerdings hatte ich nichts anderes erwartet, hier kommt mir die Kälte irgendwie noch kälter vor! In Gedanken hatte ich mich schon auf einen Jahreswechsel am Strand bei tropischen Temperaturen gefreut ... aber erstens kommt es anders, zweitens als man denkt!
Gespannt erwartete ich - mitten in der Wüste - den angekündigten Blizzard. Schneeschaufel und -besen liegen griffbereit. Doch alles bleibt ruhig. Gegen Mitternacht schläft sogar der lästige Wind ein, auch wenn das Quecksilber fünf Grad Minus zeigt - der Schampus muss sowieso kaltgestellt werden! So knallt der Sektkorken pünktlich (sieben Stunden später als bei Euch) und begrüßt das neue Jahr. Ein hoffentlich gutes Jahr! Ein Jahr, das mit strahlendem Sonnenschein von einem tiefblauen Himmel beginnt! Er wird dem Thermometer schon einheizen ...
Könnte es einen besseren Zeitpunkt geben, den Blick zurück schweifen zu lassen? Auf das letzte Jahr? Auf die letzten Monate? Soweit muss ich dabei gar nicht ausholen, denn die letzten Wochen brachten schon Abwechslung genug. Auch wenn ich die vergangenen Tage zwei Gänge zurückgeschaltet habe! Im neuen Jahr geht's dann ausgeruht und mit frischem Elan weiter gen Süden! Mexiko und Zentralamerika warten!
Doch lasst uns einen Blick zurück werfen ...
So lange ist es noch gar nicht her, dass ich San Francisco besucht habe. Aber ich muss schon gewaltig nachdenken, was mich an dieser Stadt begeistert hat. Ob mich überhaupt etwas begeistert hat? Ja, klar! Die Golden Gate Bridge. Seit inzwischen fünfundsiebzig Jahren überspannt sie die gleichnamige Meeresenge. Offenbar hat sie zum Geburtstag einen neuen Anstrich verpasst bekommen, denn sie strahlt in leuchtenden Rostrot. "Das harmoniert am besten mit den umliegenden Felsen!", sollen die Maler damals argumentiert haben. Ich glaube, sie haben die Farbe eher gewählt, weil man darauf den Rost kaum sieht! Trotzdem ist sie eine sehr imposante Erscheinung, zumal ich sie ausnahmsweise in voller Länge und Höhe bewundern kann - ohne einen Fetzen Nebel, in den sie sich im Sommer gewöhnlich hüllt.
In den 1920-er Jahren war sie definitiv eine technische Meisterleistung - ja, sie wurde jahrzehntelang für technisch gar nicht machbar eingestuft ... bis sich ein paar mutige Ingenieure und Politiker entschlossen, Tausende Männer aus der Arbeitslosigkeit zu holen und das Wagnis anzugehen. Seit 1933 überspannt nun die damals längste Hängebrücke der Welt die zwei Kilometer breite Einfahrt in die Bucht von San Francisco. Die sechsspurige Fahrbahn (zuzüglich Fuß- und Radweg) hängt an zwei lächerlich dünnen Drähten (Durchmesser je fast ein Meter) siebzig Meter über dem Meer und schwankt bei Wind gewaltig hin und her. Trotzdem - oder gerade deswegen - hat sie selbst das schwere Erdbeben von 1989 ganz ohne Schäden überstanden.
Denn das darf man bei den technischen Rekorden, die hier aufgestellt wurden, nicht vergessen: San Francisco liegt mitten auf der Sankt Andreas Verwerfung. Dort, wo pazifische und amerikanische Platte aneinandergrenzen - und sich jährlich um ein paar Millimeter gegeneinander verschieben: Ursache gewaltiger Erdbeben! Zwei schwere Erschütterungen hatte die Stadt schon zu verzeichnen, die nächste kann sie jeden Tag beuteln! Ja, das nächste große Beben ist seit Jahren überfällig! 1906 erschütterte das erste große Beben die junge Stadt ... und vernichtete achtzig Prozent davon. 1986 kam das zweite Beben mit größerer Härte (8,6 auf der nun eingeführten Richter-Skala) ... und richtete hingegen kaum Schäden an. Die Stadtväter hatten ihre Lektion gelernt und seither muss jedes Gebäude, jede Einrichtung, jede Brücke, jede Leitung strengste Erdbebenrichtlinien einhalten, die zudem Jahr für Jahr verschärft werden.
Wohl imposantestes Beispiel dafür ist die City Hall, das mondäne Rathaus, das außen mit einer dem Petersdom ähnlichen Kuppel glänzt. Und innen mit hunderten Sälen voller weißem italienischem Marmor. Da das ursprüngliche Gebäude die verschärften Erdbeben-Anforderungen nicht einhielt, wurde es quasi vollständig ausgegraben und auf 600.000 überdimensionale Gummipuffer gesetzt, die Kuppel und Marmorwände künftig schützen sollen. Und natürlich die Menschen, die im Innern arbeiten. Geld spielt hier - anders als vielleicht in Europa - bei solchen Belangen keinerlei Rolle. Zur Not lässt man die Notenpresse eben ein bisschen schneller laufen.
Hässlich ist San Francisco beileibe nicht. Kein Vergleich mit Las Vegas! Trotzdem ist sie eine amerikanische Großstadt. Das heißt: lange Wege. Sehr lange Wege. So dass man die Stadt weder zu Fuß noch mit dem Radl auch nur ansatzweise erkunden könnte. Glücklicherweise gibt's eine Reihe öffentliche Verkehrsmittel: Busse und Trambahnen, Vorortzüge und Bimmelbahnen. Allen voran die bekannten Cable Cars, hölzerne Trambahnwagen, die an einem umlaufenden Kabel durch die Innenstadt gezogen werden. Auch nach fast hundert Jahren erfüllen sie ihren Dienst noch - wenn auch mehr zur Freude der Touristen als als Transportmittel für die Einheimischen, die immerzu in Eile zu sein scheinen.
Um die Größe der Stadt ein wenig zu verdeutlichen: Im Führer wird eine 'kleine Rundroute' angepriesen, die nur zu den wichtigsten Highlights der Innenstadt führt. Länge: 49 Meilen, 80 Kilometer. Das Ganze im steten Auf und Ab. Ist Rom auf sieben Hügeln erbaut, so liegt San Francisco auf Tausenden. Was die Stadt allerdings nicht unbedingt lieblicher macht. Die ewig gleich aussehenden Straßenzüge führen einfach schnurgerade über die Hügel hinweg.
Eine einzige Straße in der großen Stadt - die Lombard Street - weist Kurven nicht unähnlich den Haarnadelkurven einer Schweizer Passstraße auf (es ging straßenbautechnisch wohl nicht anders). Prompt bilden sich an manchen Tagen lange Schlangen vor Ihrer Zufahrt: nur weil hunderte Autofahrer den Nervenkitzel der ungewohnten Kurven suchen.
Ungeachtet der endlosen schnurgeraden Straßen geben drei riesige Parks der Stadt ein wenig Flair: der Presidio Park zu Füßen der Golden Gate Bridge, der Harding Park mit dem Zoo, weit im Süden und der Golden Gate Park, der sich fast quer durch die ganze Stadt zieht. Allerdings nicht so nah an der City wie der bekannte Hydepark in New York. So ist die Reise zu ihm schon fast ein Tagesausflug.
Dort findet sich neben einem einladenden, farbenfrohen (und teuren) Japanischen Garten das berühmte Museum De Young und ein sogenanntes 'Science Center', das wie üblich den lieben Kleinen die Welt der Technik näherbringen soll - für die lieben Großen allerdings eine böse Unterforderung darstellt. Am weltbekannten Museum De Young fasziniert mich auch eher die außergewöhnliche, sachliche und außergewöhnlich ansprechende Architektur und ein leckerer Kaffee auf der offenen Terrasse als die Exponate in seinem Inneren. Na ja, als Kunstbanause könnte ich den Amerikanern vielleicht noch als Vorbild dienen ...
Dass in unmittelbarer Nachbarschaft zum Museum auch eine Statue der bei uns so hoch geschätzten Herren Goethe und Schiller zu finden ist - wiewohl arg versteckt zwischen Büschen - lässt mich doch wieder ein wenig Hoffnung schöpfen. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren in Staate Amiland.
Der Golden Gate Park selber ist trotz seiner Größe und dem vielen Grün eher ein Reinfall. Von wegen 'Ruhige Idylle'. Belebte Straßen kreuzen ihn allenthalben und wirkliche Ruhe ist nirgends zu finden!
Dafür führt mich der Heimweg durch ein Stadtviertel namens Haight Ashbury. Hier wurde in den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts ein neues Lebensgefühl erfunden: 'Make Love, not War!'. San Francisco und insbesondere Haight Ashbury war - und ist heute noch - die Hochburg des Hippiekults. Woodstock-Festival, Musicals wie 'Hair' oder 'Jesus Christ Superstar', Künstler wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, Melanie Safka und Jim Morrison, Aktivisten wie Ken Kesey, Allen Ginsberg, Bands wie Grateful Dead, Beatles, Rolling Stones, The Who, Santana ... Sie alle sind noch heute unvergessen ...
Eine Handvoll Häuserzeilen - nahe der Kreuzung der beiden Straßen, nach denen die Gegend ihren Namen hat -strahlen noch ein wenig das Flair der damaligen Hippiezeit aus. Der Freiheit, der Liebe, der Unbekümmertheit, der Lebensfreude ...
Des Nichts-Habens. Des Ewig-Bekifft-Seins. Des Ungewaschen-Seins. Der verfilzten Haare. Der leeren Geldbörsen und hungrigen Mägen. Diesen Eindruck machen mir die Gestalten an den Straßenecken allerdings eher. Obwohl ich die Hippiekultur in meiner Jugend wie wenig anderes im Leben angehimmelt und manches ihrer revolutionären Embleme meine Schulhefte geziert hatte, möchte ich um keinen Preis der Welt mit diesen Gestalten tauschen. Wahrscheinlich bin ich auch nur ein paar Jahre zu spät geboren, um die volle Wucht einer alternativen Lebensweise abbekommen zu haben.
1968. Keiner, der es auch nur am Rande erlebt hat wird dieses Jahr je vergessen. Ist nicht eine ganze Generation danach benannt? Doch da war ich gerade vierzehn, interessierte mich eher für Reagenzgläser, Schiffsmodelle und die gerade erfundenen Transistoren als für Politik und alternative Lebensmodelle! Ganz so spurlos ging die aufregende Zeit offenbar auch an mir nicht vorüber ... Die letztlich unerwartet sauberen Häuserzeilen im alten Hippieviertel bringen kaum bekannte, doch unerwartet vertraute Saiten in mir zum Schwingen. Gedankenverloren bummle ich durch die bunten Häuserzeilen.
Was blieb mir von San Francisco noch in Erinnerung?
Vor allem ein aberwitzig teurer Campground! 89 Dollar, umgerechnet 72 Euro pro Nacht für ein geteertes, lautes, hell erleuchtetes Geviert von vier mal acht Metern ohne jedes Grün, ohne Tisch und Bank (wie sonst auf jedem noch so schäbigen Campground üblich). Der Vergleich zu ähnlichen Plätzen in anderen Städten (dort zahlte ich maximal 35 Dollar) fiel - wie ihr sicher versteht - nicht eben zum Vorteil des Candlestick Park aus. Obendrein will mir der Geschäftsführer gleich noch seinen privaten Busservice zur Innenstadt verkaufen - Kosten 12 Dollar pro Fahrt. "Gibt's denn keine Trambahn oder öffentliche Busse?" frage ich. "Nein, die Busstation ist sehr weit entfernt und zu Fuß nicht zu erreichen!" lautet seine - schon etwas unfreundliche - Antwort. Zehn Minuten sind's zu Fuß zur Busstation ... und der Fahrpreis liegt bei gerade zwei Dollar. Das lerne ich anderntags, als ich auf eigene Faust in die City fahre. Soviel zum Geschäftsgebaren der Amerikaner. Der Herr auf dem Campground ist da (leider) kein Einzelfall!
Und was noch? Eher wenig! Wie gesagt, ich muss mir schon arg das Hirn zermartern, um die wenigen Details zu San Francisco zu finden. "So beeindruckend kann die drittgrößte Stadt Kaliforniens wohl nicht sein?" fragt ihr sicher. Ich kann nicht wirklich widersprechen. Aber ihr kennt ja meine Vorliebe für Städte. Amerikanische allemal. Es wird für lange Zeit meine letzte sein! Lassen wir deshalb lieber noch ein paar Bilder sprechen ...
Die Fahrt nach Süden entlang der Pazifikküste entschädigt für manches Erlebnis in der Stadt. Das Wasser lädt zwar nicht eben zum Baden (um genau zu sein, es ist saukalt), und es herrscht viel Verkehr am langen Wochenende vor Thanksgiving, dem höchsten amerikanischen Feiertag. Doch die Straße schlängelt sich ausnehmend malerisch und hoch über der Pazifik-Brandung an den Felsen entlang. Hinter jeder Biegung öffnen sich neue, großartige Ausblicke auf die Küste, das Meer, auf menschenverlassene Sandstrände, abgeschiedene Buchten und vereinzelte winzige Ortschaften.
Kurz vor San Simeon, auf halber Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles werden die Sandstrände schlagartig breiter, rücken näher an die Straße - und sind für Badegäste gesperrt. Warum? Nun, ein paar Seelöwen tummeln sich an den Stränden - und wollen nicht gestört werden! Bei dem Fischgeruch würde allerdings eh keiner sein Handtuch neben ihnen ausbreiten wollen! Im einen Dutzend Buchten liegen Hunderte, wenn nicht Tausende von Ihnen und lassen sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Im wahrsten Sinn des Wortes! Sie müssen gesellige Tiere sein, so wie sie Körper an Körper im Sand liegen. Der Strand von Mallorca kommt mir in den Sinn, wo sich andere Kreaturen genauso dicht an dicht in der Sonne aalen. Ein ulkiger - und seltener - Anblick sind sie allemal.
Ein Schlechtwettergebiet zieht auf, meldet das Radio. Also nichts wie ab ins Landesinnere, wo die Berge der Sierra Nevada zumindest die schlimmsten Wolken abhalten sollten.
Tatsächlich bleiben die Wolken brav hinter den Bergen zurück, als ich über den Pass in ein weites, offenes Tal einfahre, das mich stark ans Death Valley erinnert. Carrizo Valley heißt die Gegend und die Niederschläge können mit denen des Death Valley durchaus konkurrieren: nahe Null! Der Soda Lake hier oben ist strohtrocken und völlig ausgedörrt - wie der Lake Manly unten im Death Valley.
Der wahre Reiz des Gebiets liegt aber darin, dass es mitten auf der San Andreas Verwerfung liegt. Wie ein schlafender Unruheherd zieht sich diese Reibungskante zwischen pazifischer und amerikanischer Platte quer durch Kalifornien: von Norden nach Süden, mitten durch dicht besiedeltes Gebiet wie in San Francisco oder Palo Alto, durch fruchtbare Täler wie das Salinas Valley oder ausgedörrte, menschenleere Wüsten wie hier im Carrizo. Bei San Francisco ist die Bruchlinie in der Landschaft kaum erkennbar, zudem mit einer (künstlichen) Seenkette bedeckt. In der Wüste ist sie klar erkennbar und - durchaus etwas angsteinflößend.
Seit Jahrtausenden fließt hier ein Bächlein, der Wallace Creek von den flachen Hügeln der amerikanischen Platte hinunter zum Soda Lake auf der pazifischen Platte. Den Großteil des Jahres ist er ausgedörrt und als Bach kaum zu erkennen. Doch über die Jahrtausende hat er sich sein Bachbett quer zur Bruchlinie gegraben. Vor 10.000 Jahren floss er sicher in gerader Linie von 'Amerika' zum 'Pazifik'. Pro Jahr aber schiebt sich die pazifische Platte etwa 34 Millimeter weiter nach Norden. Macht in 10.000 Jahren rund 340 Meter. Genau um diesen Betrag fließt der Bach nun im Zick-Zack. Die Forscher haben alles haarklein nachgemessen. Ein einleuchtender Nachweis der Bewegung - neben all den anderen Narben und Rissen, die in der Wüste nicht zu übersehen sind. Ein beeindruckender Ort - und ein etwas Angst einflößender. Aber nur zu gerne wäre ich genau hier, wenn der Pazifik das nächste Mal 'ruckelt'. Vielleicht schon morgen, vielleicht auch erst in fünfzig Jahren. So lange aber mag ich nicht warten!
Mehr oder weniger entlang dieser Verwerfung führt die Straße ins nächste Tal: das von Mariopa. Eines der größten Obstanbaugebiete Kaliforniens: Orangen und Zitronen, Grapefruit, Limonen, alles was viel Sonne und erträgliche Temperaturen braucht, wächst hier oben. Doch ohne Wasser gedeihen auch die genügsamsten Bäume nicht. Also wird das gesamte Land bewässert. Mit Wasser, das wir schon kennen: es kommt vom Colorado River, der riesigen - und einzigen (!) - Lebensader für die Südstaaten des amerikanischen Westens. Über Hunderte von Kilometern wird das Nass vom Hoover-Staudamm durch Kanäle und Rohrleitungen herangeführt und verwandelt jedes Fleckchen Wüste an seinen Ufern in eine grüne Oase. Ohne den mächtigen Colorado gäbe es auch hier nur Wüste und staubtrockene Prärie. Denn die paar Regentropfen, die im Winter fallen (die Wolken hinter den Bergen bringen ein paar davon) wären kaum ausreichend, die riesigen Felder und Obsthaine zu versorgen.
Das sonnige Zentrum Kaliforniens, die Gegend mit den höchsten Sonnen-Einstrahlungswerten bildet das weiträumige Antelope Valley gleich nebenan. Bislang Zentrum des Anbaus von Zitrusfrüchten - vorwiegend Orangen und Zitronen - wurde es vor Jahren auserkoren, Zentrum der regenerativen Energien zu werden. Also werden neben ein paar Hundert Windturbinen (an den Talhängen) nun Dutzende riesiger Solarfarmen installiert. Dort, wo früher leckere Orangen gediehen, werden nun Kilowattstunden geerntet.
Einige der weltgrößten Fotovoltaikanlagen wurden und werden hier errichtet - Farmleistungen zwischen 200MW und 2000MW. So viel wie zwei der heimischen Atomkraftwerke zusammen genommen. Nicht kleckern heißt die Devise - sondern klotzen! Platz dafür gibt's gratis und die Anbindung kostet gleichviel, egal ob zwanzig oder zweihundert Megawatt. Äußerst bemerkenswert erscheint mir, dass die Anlagen durchweg nicht nach Süden, sondern nach Westen ausgerichtet sind. Als ob abends die Sonne stärker scheint als mittags. Einen Grund für die ungewöhnliche Ausrichtung konnte ich nicht herausfinden, zumal alle Anlagen mit hohen Sichtschutzzäunen umgeben, streng bewacht und die Wächter wenig auskunftsfreudig sind. [1]
In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Fotovoltaikanlagen entsteht eine komplett neue Stadt. Wie üblich auf dem Reißbrett entworfen, soll sie bei Fertigstellung eine Fläche von über zweitausend Quadratkilometern (!) einnehmen, fünfzig Kilometer von einem Ortsende zum andern! Gigantismus á la Amerika! Schöne Aussicht? Charme? Lebensqualität? Fehlanzeige! Hundert Meilen Luftlinie trennt sie vom Ballungsraum Los Angeles, dass sich hier einen neuen Vorort erschließen möchte. Die Menschen sollen dann täglich nach L.A. pendeln können: die Zubringerautobahn ist seit Jahren fertig. Achtspurig. Und schon jetzt chronisch verstopft, obwohl erst geschätzte fünf Prozent der geplanten Bevölkerung hier wohnen!
Mehr durch Zufall finde ich im Gewirr meilenlanger, rechtwinkliger, noch völlig unbebauter Straßenzüge eine nagelneue Highschool. 'In the Middle of Nowhere.' Offenbar der ideale Platz, um eine Versuchsanlage für nachgeführte Solaranlagen zu installieren. Ein technischer Leckerbissen, habe ich doch so etwas (sehr viel kleiner) auf der Lady Grey installiert. Neben mehreren linearen, einachsig nachgeführten Tisch-Fotovoltaikanlagen stehen auch zwei Felder mit zweiachsig nachgeführten Anlagen, wovon eine schon in Betrieb ist. Der Clou ist, dass beide Felder mit sogenannten Konzentratorzellen bestückt sind, die das Sonnenlicht nochmals bündeln, um aus den kleinen Siliziumchips eine noch bessere Ausbeute herauszuholen. So etwas sieht man nicht alle Tage. Selbst hier im sonnenverwöhnten Kalifornien nicht!
Nach und nach ist inzwischen auch die Entscheidung gereift, wo ich die Feiertage und den Jahreswechsel verbringen werde. Ursprünglich war ja - wie selbstverständlich - die Baja California geplant gewesen: die langgestreckte Halbinsel im Westen Mexikos zwischen dem Pazifik und dem Golf von Kalifornien. Vielleicht irgendwo am zweitausend Kilometer langen Sandstrand stehen ... die Seele baumeln lassen ... die Sonne genießen ...
Die gleiche Idee hatten offenbar auch andere. Jeder - egal ob einheimischer Camper oder Langzeitreisender aus Europa - ausnahmslos jeder, den ich fragte, wo er Silvester verbringt, meinte "Klar, auf der Baja ...". Muss also ganz schön voll sein, dort unten! Nicht mein Ding! Also lasse ich sie alle auf die Baja fahren und kreuze selber lieber noch ein wenig in Kalifornien herum. San Bernardino, Palm Springs, Joshua Tree Nationalpark, die Mojave Wüste ... Es gibt noch eine Menge zu sehen. Und auf einmal habe ich auch wieder Zeit ...
Zeit. Auch Zeit für Dinge, die ich mir schon lange vorgenommen hatte ... Die Lady Grey braucht dringend neue Versorgungsbatterien, die Gasflaschen sind ebenfalls leer, fürs Radl wünsche ich mir eine Federgabel, zum Lesen an den langen Abenden vielleicht einen Reader oder ein Tablet. Für die Website - und mich selber - vielleicht auch eine Überarbeitung der Memoiren, die ich gewöhnlich auf jeder Reise fortsetze und aktualisiere. [2]
So kommt sicher über die Feiertage keine Langeweile auf! Zudem treffe ich - mitten in Palm Springs - Michael wieder, den Erbauer der Lady Grey, der nun auch selber durch die USA kreuzt. Da gibt es natürlich viel zu erzählen - und einen leckeren Cappuccino aus seiner Kaffeemaschine .
Palm Springs ist das Mekka vieler Canadier und Amerikaner aus den nördlicheren Staaten. Die meisten Autos tragen Kennzeichen aus Montana, Dakota, Michigan oder Minnesota. Wer es sich leisten kann, verbringt die Wintermonate hier im Süden Kaliforniens. Genießt den Sonnenschein, die Wärme, die palmengesäumten Straßen, die gepflegten Gärten rund um die Wohnanlagen.
Auf den zahlreichen Campingplätzen in und um die Stadt ist ab Anfang Dezember kaum mehr ein freies Plätzchen zu finden. Viele davon sind wirklich herrlich angelegt, Blumenrabatten, der Golfplatz direkt vor der Wohnmobil-Tür, Swimmingpools, drei, vier Restaurants jeglicher Cuisine direkt am Platz, die Security, die Tag und Nacht über die teuren Mobile wacht ... Es fehlt an nichts! Sofern man es hat: das nötige Kleingeld. Die Stellplatzmiete in solchen noblen RV-Resorts beginnt bei 2000 Dollar (1600 Euro) pro Monat! Nach oben offen ...
Hineingelassen hätte man die Lady Grey dort sowieso nicht. Es gibt strikte Vorgaben, wie ein Wohnmobil auszusehen hat! Höhe, Länge, Breite ... Farbe! Nicht, dass ich dort hätte bleiben wollen! Ich stöhnte schon beim Preis für meinen Winzig-Stellplatz nahe der Stadt, vierzig Euro für vierzig Quadratmeter Beton. Pro Nacht! OK, OK, ein kleiner Swimmingpool, ein Jacuzzi, schnelles WiFi, saubere Duschen und Waschmaschinen: alles war inclusive. Dennoch ein Luxus, den ich mir nicht oft leisten konnte - und wollte! Für das Geld bekomme ich in München eine Zweizimmerwohnung in bester Wohnlage!
Für die Erkundung der Stadt war der Camp allerdings prima gelegen! Keine zehn Minuten zu Fuß und schon konnte man grenzenlos Shopping-Meilen sammeln. Unter Palmen von einem Restaurant zum nächsten bummeln, von einem Souvenirladen zum nächsten, von einer Physiotherapiepraxis zur nächsten. Die Stadt ist nämlich ganz prima auf Ihr Winterpublikum eingestellt: überwiegend Herrschaften vorgerückten Alters. Die brauchen auch schon mal eine Arztpraxis oder eine Rückenmassage (die Stunde zu vierzig Euro, sehr entspannend!)
Im Sommer allerdings muss die Stadt einer Ghosttown gleichen, bei vierzig Grad im Schatten mag hier wahrlich keiner flanieren gehen! Dann ziehen all die Nordlichter wieder in ihre Heimat ...
Neben palmengesäumten Straßen, Blumenrabatten und den obligaten Shoppingmalls hat Palm Springs auch das - dem Vernehmen nach - beste Luftfahrtmuseum des Landes zu bieten. Im Air Museum gleich neben dem offiziellen Flugfeld sind über drei Dutzend alter, aber bestens restaurierter Flugzeuge ausgestellt. Die meisten von ihnen stammen aus dem zweiten Weltkrieg und sind heute noch flugfähig! So erzählen das jedenfalls die Museumsführer, allesamt frühere Piloten, die jede Einzelheit ihrer Maschinen kennen und dem Besucher stolz erklären. Manche von Ihnen - so hat es den Anschein - haben selbst noch Einsätze über der Normandie oder in Indochina geflogen.
Sogar die Geschichte des zweiten Weltkriegs - des ersten Kriegs, in den die USA als Großmacht direkt involviert war - wird mit zahlreichen - politischen wie militärischen - Details geschildert. Einzelheiten, die selbst in Europa eher unbekannt sind. Das Ganze unerwartet neutral und sachlich, ohne das sonst übliche Helden-Pathos! Ohne die üblichen Gut-Böse-Klischees! Wirklich sehenswert!
Regelmäßig liegen die Frühtemperaturen - jetzt im Frühwinter - in Palm Springs wenig über dem Gefrierpunkt. Von den Gipfeln der San Jacinto Mountains grüßt eine dicke, weiße Schneehaube. Vereinzelt sieht man Mutige mit einem Snowboard unterm Arm auf dem Weg zur Bergbahn. Die meisten Menschen aber kuscheln sich in warme Daunenanoraks, Mütze und Handschuhe sind obligatorisch. Gar mancher schlingt sich noch einen dicken Schal um Mund und Hals und oft ist nur die rote Nasenspitze zu sehen! Es ist 'saukalt' - zumindest für kalifornische Verhältnisse.
Wem es im Sommer unten in Palm Springs zu heiß wird, flüchtet für gewöhnlich in die Berge - und in die Wüste. High Desert, hoch gelegene Wüste heißt die Gegend östlich von Palm Springs, tausend Meter höher gelegen, im Sommer noch trockener als das Valley, dafür mindestens zehn Grad kühler. - Im Winter leider auch!
Morgens zeigt das Quecksilber dort nun zweistellige Minusgrade. Da muss die Heizung der Lady Grey ganz gehörig bullern, um die Eiszapfen an - und in ihr - aufzutauen. Trotzdem ist es eine faszinierende Gegend: der Joshua Tree Nationalpark!
Hier oben - und fast nur hier - wachsen die lustigen Joshua Trees, von denen der Park seinen Namen hat. Bäume, die gar keine Bäume sind, sondern Kakteen! Die man in Deutschland eher als Yucca Palmen kennt, doch mit Palmen haben sie noch weniger gemein als mit Bäumen. Wie dem auch sei, sie sind äußerst stachelig (eben Kakteen), lustig anzusehen - und bedecken riesige, weite Täler!
Sehenswert, interessant und einladend sind im Park auch die Berge zwischen den Tälern: alte, harte Granitberge! Von denen allerdings sind nur noch ein paar Brösel übrig: einzelne Granitfelsen, die von Frost und dem wenigen Wasser der Wüste gespalten, abgetragen und rundgeschliffen wurden. Geologisch interessante Felsen. Zum Klettern einladende Felsen. Fotogene Felsen.
Felsen, zwischen denen man prima campieren kann. So entstanden hier oben sechs wunderschöne Campgrounds, die im Sommer noch um vieles stärker besucht sein dürften als jetzt. Trotzdem sind viele ausgebucht. Ein nettes Get Away vom Stress der Stadt, zu dem die Menschen selbst aus dem zweihundert Meilen entfernten Los Angeles anreisen.
Die Tage werden kürzer, spätestens um fünf verkriecht sich die Sonne hinterm Horizont und lässt sich erst gegen sieben am andern Morgen wieder blicken - die längsten Nächte des Jahres. Ausreichend Zeit, das trockene, karge Land auskühlen zu lassen. Kein Wunder, dass am Morgen jedermann bibbert, den wärmenden Daunenanorak fester um die Schultern schlingt und die Mütze tiefer ins Gesicht zieht.
Ist die Nordseite des sanften Bergrückens, der sich durch den Park zieht weitgehend mit Joshua Trees bewaldet, findet man am Südhang zwei völlig andersartige Kakteenarten: den Cholla-Kaktus (gesprochen Tscho-Ja-Kaktus) und den Ocotillobaum (gesprochen Okkoti-Jo-Baum). Beide findet man nur hier oben - und in der mexikanischen Wüste. Beide sind äußerst stachelige Gesellen und an die herrschende extreme Trockenheit ausgesprochen gut angepasst. Echte Wüstenbewohner eben! Der Ocotillobaum kann bei Regen sogar richtig grüne Blätter hervorbringen, die er bei nachlassender Feuchtigkeit auch wieder abwirft. Das veranstaltet er sogar mehrmals pro Jahr, allein abhängig von den Niederschlägen. Falls es denn tatsächlich mal regnet!
Ja, falls es einmal regnen sollte. Oder schneien. Das 'ausgedehnte Schlechtwettergebiet', das Palm Springs in der Silvesternacht einen Blizzard, einen heftigen Schneesturm bescheren sollte, zieht jedenfalls spurlos über das Lucerne Valley und den Joshua Tree Nationalpark hinweg. Der böige, bitterkalte Nordsturm bringt allenfalls ein paar vereinzelte Schneeflocken, die im Windschatten der Felsen als weißer Hauch liegen bleiben. Beim ersten Sonnenstrahl aber ist der weiße Hauch schnell Schnee von gestern! Schnee vom letzten Jahr muss man richtigerweise sagen! Denn wir schreiben das Jahr 2015!
Auf Kalifornien ist eben doch Verlass. Zumindest auf die Berge, die jegliche Wolken der Küste - egal ob dicke Regen- oder schwere Schneewolken - vom Binnenland fernhalten. Die Wüste wird mich also doch noch ein gutes Stück des Weges begleiten, wenn ich in den nächsten Tagen gen Süden rolle, um die Baja California, um Mexiko und Zentralamerika unter die Räder zu nehmen.
Ich bin schon mächtig gespannt, was uns hinter dem Grenzzaun erwartet ... eine völlig andere Kultur, eine andere Sprache, eine andere Mentalität. Mit dem easy travelling, wie ich es die letzten neun Monate genießen durfte, wird es wohl erst einmal vorbei sein! Vielleicht hält dort aber auch der Reiz des Reisens wieder Einzug? Das Abenteuer? Die Herausforderung? Ohne die eine Reise eben doch nur 'Urlaub' ist!
Lassen wir uns überraschen ...
Die bekannte Statistik und ein paar persönliche Anmerkungen zu den USA gibt's rechts ...