Seton Lake - Lillooet (Canada, British Columbia) (GPS:#176;40,011'N; #176;58,667'W)
Senkrechte, von Gletschern glatt geschliffene Felswände türmen sich um das Tal. Unten der See, türkisgrün und bitterkalt. Am kurzen, waldigen Ufer ein kleiner Campingplatz ohne große Infrastruktur. Zwei Plumpsklos, zwei Abfallkübel, zehn Picknickbänke, das muss reichen. Nur ein paar vereinzelte Camper haben das Areal entdeckt und sind zwischen den Bäumen kaum auszumachen. Kein Platzwart, der irgendwelche Gebühren kassiert! Mit freundlichen Grüßen der BC Hydro, denn tatsächlich ist der Seton Lake ein Stausee für das Kraftwerk unten im Tal. Trotz aller Technik (die ich natürlich als erstes besuche) kann die Seele wieder einmal baumeln. Und ich kann versuchen, die Ereignisse der letzten Wochen zusammenzufassen. Da ist doch einiges zusammengekommen! Vielleicht kann ich schon so etwas wie Bilanz der Canada-Etappe ziehen?
Fangen wir am besten da an, wo wir das letzte Mal aufgehört haben: in Alaska.
Anchorage und die südlich anschließende Halbinsel Kenai liegen auf dem gleichen Breitengrad wie Bergen in Norwegen. Und auch Bergen ist ja nicht eben berühmt für seine vielen Sonnentage. Zudem hat sich im Golf von Alaska ein Tiefdruckgebiet mit historisch tiefen Luftdruckwerten eingenistet, das partout nicht weichen will! Seit Tagen pendelt der Luftdruck um die 900mbar! Eine Wolkenfront jagt die nächste, heftiger Nieselregen, leichter Regen, schwerer Regen, Wolkenbruch, Regenwolken direkt auf der Straße (Nebel), ich weiß nicht, was mir lieber ist.
Süßigkeiten sollen ja gut für die Stimmungslage während ausgedehnter Schlechtwettergebiete sein. Sagt man. Gut, dass es davon im Safeway-Supermarkt von Anchorage reichlich Auswahl gibt. Wobei die bunten Sachen nicht so wirklich mein Geschmack sind! Eher die Schwarzwälder rechts ...
In Anchorage gibt's zwar nicht sonderlich viel zu sehen, dafür aber auf der südlichen Halbinsel Kenai. Im Grunde ist sie eine Fortsetzung der Aleuten, der vulkanischen Inselkette, die die Beringsee vom Pazifik trennen und den Ring of Fire rund um den Pazifik schließen. Heute hat die Halbinsel dem Besucher vor allem viel Natur zu bieten: Fjorde, Berge, Gletscher, Wasserfälle. Dazu wilde Tiere: Grizzlies, Lachse, Seelöwen, Seeotter, Orca- und Humpback-Wale.
Das einzige, was ich davon zu sehen bekomme, sind die Wasserfälle. Allerdings die von oben. Und die wollen einfach kein Ende nehmen! Es ist wie verhext! Aber man kann nicht immer nur Sonnenschein haben! Gerade hier oben, wo sich das Wetter genauso schnell ändert wie die Zeiger auf der Uhr. Also lasse ich die Scheibenwischer ihre Arbeit tun und rolle zum südlichsten Punkt der Halbinsel, nach Homer.
Am Homer Spit, einer sechs Kilometer langen, sandigen Landzunge ist die Halbinsel zwar noch nicht zu Ende, wohl aber die Straße. Und die Verkehrsverbote, wie eine Ansammlung von Verkehrsschildern am 'Land's End' unübersehbar verkündet. Ja, Ordnung muss schon sein! Davor drängen sich auf der Landzunge Campingplätze und Marinas, Seafood-Restaurants und Agenturen für Bootsausflüge dicht an dicht. Doch heute liegt alles verwaist. Die Camps sind leer, die Jachten dümpeln lustlos an den Molen, die Touroperator widmen sich der Buchhaltung und die Restaurants haben wegen fehlender Kundschaft geschlossen. Bei dem Wetter will keiner auch nur einen Fuß vor die Tür setzen. Nicht einmal die wettergegerbten Angler und Fischer, die sonst an jedem winzigen Fleckchen Wasser anzutreffen sind!
Also kehrtmachen und den gleichen Weg zurückrollen. Wenigstens kommt der Regen jetzt von der anderen Seite! Ja, er lässt sogar ein wenig nach. Also lege ich einen Zwischenstopp am westlichsten Punkt des amerikanischen Straßennetzes ein. Weiter Westen geht's hier nur noch zu Fuß oder mit dem Boot! 59°46,427'N, 151°52,035'W zeigt das GPS, schon fast auf dem Längengrad von Hawaii, wie ein Blick auf den Globus verrät!
Noch ein interessantes Detail am Rande: das westliche Festland Alaskas und mehr noch die Inselkette der Aleuten schieben sich noch ein gutes Stück weiter gen Westen, bis bei einer winzigen, unbewohnten Insel namens Attu nahe dem 170. Längengrad Ost (!), Alaska dann wirklich zu Ende ist. Wenige Seemeilen westlich - jenseits der Datumsgrenze - beginnt dann die russische Föderation mit den Ausläufern der Halbinsel Kamtschatka. Sehr viel näher kommen sich die beiden Staaten allerdings am Cape Prince of Wales, nördlich von Nome, wo jenseits der schmalen Beringstraße schon auf 170 Grad West (!) die russische Föderation beginnt.
Auf diesem Weg wanderten vor zirka 17.000 Jahren - damals gab es hier eine trockene, eisfreie Landverbindung - die Ureinwohner Nord- und Südamerikas ein und besiedelten nach und nach den gesamten Kontinent. Ausgrabungen von Mammutknochen und Überresten menschlicher Besiedelung hier in der Umgebung belegen das zweifelsfrei. Die orientalische Herkunft sieht man selbst heute den vielen First Nations oder Aboriginees, wie sie hier genannt werden, noch an. Flache Nase, steile Stirn und ein dunkler Teint lassen mich eher auf Einwanderer von den Philippinen oder der Mongolei tippen. Was sie ja auch sind. Nur dass sie schon ein paar Tausend Jahre hier leben und nicht erst mit der jüngsten Einwandererwelle ins Land gespült wurden.
Bis ins Jahr 1867 war die Grenze zwischen USA und Russland noch eine ganz andere. Alaska gehörte dem russischen Zaren. Der dänische Entdecker Vitus Bering hatte es schon im frühen 18. Jahrhundert für ihn in Besitz genommen. Nach dem Nachlassen des Pelzhandels - unter anderen waren die gefragten Seeotter nahezu ausgerottet - zeigte der Zar wenig Interesse an dem Land, das so weit entfernt von Sankt Petersburg lag. Prompt bot er es auf ebay® an. Die Nachfrage war offenbar nicht sonderlich groß, denn die USA bekamen den Zuschlag für sage und schreibe 7,2 Millionen US-Dollar. Gerade einmal fünf US-Dollar für jeden Quadratkilometer Land! Gut, damals war der US-Dollar noch etwas wert, trotzdem ein echtes Schnäppchen für den amerikanischen Außenminister Seward, der den Deal eingefädelt hatte.
Wenig später - 1880 - muss sich der Zar grün und blau geärgert haben, denn da wurde bei Juneau, der heutigen Hauptstadt Alaskas, Gold entdeckt! Tausende Prospektoren strömten ins Land und nach weiteren Funden war Alaskas Kaufpreis mehr als wettgemacht! Als schließlich in den 50-er Jahren an mehreren Orten 'schwarzes Gold' (Erdöl) gefunden wurde, wurde der neunundvierzigste Bundesstaat zur Schatzkammer der Vereinigten Staaten.
Deren Einnahmen flossen über viele Jahrzehnte hinweg vornehmlich in die Taschen der Ölkonzerne und der Südstaaten. Erst in den letzten Jahren mehrt sich Widerstand der Einwohner Alaskas - allen voran der First Nations - und sie wollen deutlich besser an den gewaltigen Einnahmen beteiligt werden. Dieses Thema steht auch ganz vorn an bei den Senatswahlen am 19. August. Wahlplakate aller Couleur zieren jedes Haus und keiner macht ein Hehl aus seiner politischen Überzeugung. Mal sehen, ob sich die Situation ändert.
Die langestreckte Halbinsel war früher eines der Hauptsiedlungsgebiete der russischen Pelzhändler und Jäger. Noch heute stehen in Orten wie Kenai oder Ninilchik russisch-orthodoxe Kirchen und die Gräber mit russischen Namen werden von orthodoxen Doppelkreuzen geschmückt. Ansonsten ist von der russischen Vergangenheit wenig geblieben.
Bei gutem Wetter kann man von der Westküste der Halbinsel auch die Vulkane am anderen Ufer des Cook-Inlet sehen, deren letzter Ausbruch gerade einmal zweiundzwanzig Jahre zurückliegt (1992) und aus deren Kratern ab und an leichte Rauchschwaden aufsteigen. Wie gesagt, bei gutem Wetter. Mit dem Fernglas gerade noch auszumachen sind dagegen Dutzende von Ölplattformen, die das schwarze Gold - praktisch in Sichtweite der Vulkane - fördern und einen der größten Arbeitgeber der Region darstellen. Besonders hier findet man zahlreiche Wahlplakate zu den Senatswahlen, bei denen die künftige Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung auf dem Prüfstand steht.
Ist die Westküste der Kenai über weite Strecken flach, schlammig und dicht besiedelt, glänzt die Ostküste mit bilderbuchmäßiger Fjordlandschaft und Einsamkeit pur. Der Kenai Fjords Nationalpark schützt das gesamte Gebiet mit Hunderten von Fjorden, Inseln und Buchten. Einziger Ausgangspunkt für Touren in diese gottbelassene Wildnis ist Seward, eine winzige Stadt an der Resurrection Bay, die vom (russischen) Entdecker Alexander Baranof so benannt wurde, weil er zu Ostern 1791 hier Schutz vor einem Sturm suchen musste.
Stürme sind auch heute noch an der Tagesordnung, wie ich bald leidvoll erfahren soll. Bei meinem gebuchten Bootsausflug zu dem Buchten und Gletschern des Nationalparks - des jüngsten Nationalparks der USA - habe ich zunächst unerwartetes Glück: es regnet ausnahmsweise mal nicht, zumindest nicht zwischen 11 und 16 Uhr, als wir mit dem seetüchtigen, komfortablen Katamaran unterwegs sind. Dafür bläst eine steife Brise aus Südwest (Gott sei Dank nicht kalt) und türmt die Wellen außerhalb der Resurrection Bay so hoch, dass die meisten Passagiere grün und blau im Gesicht werden, den leckeren Imbiss wieder dem Meer anvertrauen und den Kapitän zur Umkehr nötigen. Dabei haben wir doch von den viel gepriesenen Sehenswürdigkeiten überhaupt nichts gesehen: Gletscher bis ins offene Meer, kalbende Eisberge, springende Buckelwale; alles Fehlanzeige! Nur die Landschaft ist vom Feinsten! Die kann man wenigstens ansatzweise zwischen den trüben Wolken erkennen!
Wie herrlich muss das hier sein, wenn die Sonne vom Himmel lacht? Dann springen sicher auch die Buckelwale vor lauter Freude!
Ein Unikum ganz anderer Art wartet ein paar Buchten weiter im Norden bei der Anfahrt auf Whittier. Trotz seines viel besuchten Fährhafens ist das Nest so winzig und unbedeutend, dass ein eigener Straßentunnel purer Luxus wäre. Dann teilen sich eben Eisenbahn und Straßenverkehr den einspurigen Tunnel: fünfzehn Minuten lang Autos in der einen Richtung, die nächsten fünfzehn Minuten in der anderen Richtung, dann fünfzehn Minuten Pause für den Zug. Die Lady Grey durch den kaum drei Meter breiten, sechs Kilometer langen Tunnel zu bugsieren ist Schwerstarbeit: de Eisenbahnschienen wollen die Lady Grey immer wieder aus der Bahn werfen, dabei kratzt der Aufbau doch schon fast an den Tunnelwänden! Da ist Konzentration angesagt ... Nun, wir kommen wohlbehalten drüben an, der Tunnel spuckt uns in das Fischernest aus, dessen größte Einrichtung das Fährterminal ist. Und die Fastfood-Läden, die für das leibliche Wohl der Wartenden sorgen wollen.
Alaska-Kreuzfahrt des armen Mannes
Der Alaska Marine Highway ist das zweite Unikum des heutigen Tags. Er bildet ein Netz aus Fähren, die - ähnlich der Hurtigrouten in Norwegen - die isoliert in irgendeiner Bucht gelegenen Ortschaften mit der Außenwelt verbinden. Von Seattle in den Südstaaten bis hinauf nach Anchorage und zu den Aleuten erstreckt sich das maritime Straßennetz. Für Ortschaften im Panhandle Alaskas, dieser langgestreckten Insel- und Küstenlandschaft entlang der Nordwestküste Canadas ist es oft die einzige Versorgungsmöglichkeit. Oft sogar auch die einzige Möglichkeit, die Ortschaft überhaupt zu erreichen, ohne kanadische Straßen nutzen zu müssen. Selbst die Hauptstadt Juneau ist ausschließlich auf dem Marine Highway erreichbar!
Dabei führen die Fährrouten durch den landschaftlich wohl schönsten Teil ganz Nordamerikas, durch die sogenannte Inside Passage. Als Alaska-Kreuzfahrt des armen Mannes werden die vergleichsweise preiswerten Überfahrten denn auch gern bezeichnet. Die Verpflegung an Bord ist nicht so grandios wie bei den echten Kreuzfahrern - in der Kantine gibt es nur Burger oder Fritten - aber die Fahrt inmitten Tausender und Abertausender kleiner Inseln kann mit jeder 10.000-Dollar-Kreuzfahrt mithalten!
Sofern das Wetter mitspielt. Aber das ist für die gut betuchten Gäste der Kreuzfahrtschiffe auch nicht besser! Wenigstens ein Trost!
Ich hatte den Alaska Marine Highway zwischen Wittier und Valdez eingeplant, da der Abschnitt durch den Prince William Sound zu den landschaftlichen Leckerbissen der ganzen Strecke gehört. Leider hatte ich bei der Buchung wohl vergessen, einen Haken bei 'Schönes Wetter gegen Aufpreis' zu setzten: bei der Einschiffung gießt es in Strömen, auf dem offenen Meer weicht der Regen dicken, undurchdringlichen Nebelbänken. Lediglich mit Hilfe des Routenmonitors in der Schiffslounge können wir uns ein vages Bild davon machen, durch welch herrliche Landschaft wir schippern. Aber wir sind nun einmal in der gefürchteten Wetterküche Nordamerikas!
Die Einfahrt in die Bucht von Valdez ist dann trotz allen Nebels ein Erlebnis besonderer Art! Die Bucht ist bis auf eine schmale, verwinkelte Fahrrinne völlig vom Rest des Prince William Sound abgeschottet und ringsum von den vergletscherten Zwei- und Dreitausendern der Chugach Mountains umgeben. Eine Klimakammer ganz für sich! An den Berghängen wabert kalter Nebel, die Lufttemperatur fällt mit einem Schlag um zehn Grad und im Nu sind Kameratasche und Klamotten klamm vor Feuchtigkeit.
Valdez am hintersten Ende der nebligen Bucht erlangte traurige Berühmtheit. Im März 1989 ereignete sich hier der Exxon Valdez Oil Spill, der bis dahin größte, teuerste und schwerwiegendste Unfall in der Ölförderung Amerikas. Durch einen Navigationsfehler - kein Wunder in diesen engen Fahrwassern - setzte der Supertanker Exxon Valdez auf ein Riff und 41 Millionen Liter Rohöl ergossen sich ins Wasser. Verpesteten die zerbrechliche Flora und Fauna auf zweitausend Kilometer Länge! Was für die Umwelt eine nie dagewesene Katastrophe war, geriet für die Stadt zum Boom ohnegleichen. Zehntausend Helfer und unzählige Katastrophentouristen strömten in das Fischernest und ließen das Unglück vor der Haustüre schnell vergessen. Zudem erhielten die Fischer großzügige Entschädigungen aus Washington, so dass am Schluss niemand wirklich jammern konnte.
Heute hat die Natur den Rest der Putzarbeiten weitgehend selbst erledigt und von der Katastrophe ist nichts mehr zu sehen. Als ob nie etwas passiert sei manövrieren die Supertanker in den engen Fahrwassern und lassen sich an den Verladekais den Bauch füllen. Bis zu vier Schiffe können hier gleichzeitig abgefertigt werden, während die Trans-Alaska-Pipeline pro Stunde bis zu 340 Millionen Liter Rohöl aus den Ölfeldern im Norden heranschafft und die Lagertanks wieder füllt. Beim heutigen Nebel kann man die Terminals, die Lagertanks und die Ölförderanlagen allenfalls erahnen. Als ob sie sagen wollen: "Guckt her, so schlimm ist es doch gar nicht! Wir sind doch kaum zu sehen! Wie kann von uns irgendeine Gefahr ausgehen?"
Die zweite schwere Katastrophe, die Valdez heimsuchte, kam schon 1964, als am Karfreitag - wie im gesamten Süden Alaskas - die Erde mit nie dagewesener Heftigkeit bebte (Mag. 9.2) und das alte Valdez dem Erdboden gleichmachte. Offenbar hatte man die Stadt auf instabilem Untergrund gegründet. Das neue Valdez wurde vier Kilometer entfernt - nun auf hoffentlich stabilem Fels - komplett neu erbaut.
Am Morgen nach Ankunft der Fähre gießt es wieder wie aus Kübeln. "Aus Kübeln voller Eiswürfel" habe ich das Gefühl. "Nix wie weg hier!" geht es mir durch den Kopf. Am ganzen Körper bibbernd klemme ich mich hinters Steuer, um vielleicht im Windschatten des Küstengebirges besseres Wetter zu finden.
Die Auffahrt zum Thomson Pass erinnert mich an die Aussage in den Werbe-prospekten, dass Valdez und die Chugach Mountains die schneereichste Region Nordamerikas sind. Die Begrenzungspfosten für die Schneepflüge ragen sechs Meter neben der Straße auf. Just an diesem Pass sollen jährlich bis zu fünfundzwanzig Meter Schnee fallen! Pulverschnee vom Feinsten! Ein Eldorado für Schifahrer und Schneemobile! Kein Wunder, dass sich bei solchen Schneemengen - wie an der gesamten Nordwestküste - riesige Gletscher bilden, die ihre Zungen bis weit ins Tal vorschieben. Im Gegensatz zum weltweiten Abschmelzen der meisten, sollen die hiesigen Gletscher weiter wachsen.
Wie gehofft, lässt der schwere Regen nach der Passhöhe zumindest etwas nach. Lücken zwischen den Wolken geben sogar manchmal einen kurzen Blick frei auf die Ausläufer der Wrangell-Mountains, dem - zusammen mit den Nationalparks auf kanadischer Seite größten zusammenhängenden Naturschutzgebiet Nordamerikas. Der Richardson Highway, später der Tok Cutoff und schließlich der schon bekannte Alaska Highway führen in einem weit ausholenden Bogen um diese zerklüftete, abgelegene und ansonsten völlig weglose Wildnis herum. Die Berge, unter ihnen der höchste Gipfel Canadas, der Mount Logan (5959m) bilden das Nordende der sehr jungen Coastal Mountains, die sich - unter unterschiedlichen Namen - vom Kalifornien bis herauf nach Alaska erstrecken. Mit den Rocky Mountains hat dieser Gebirgszug übrigens gar nichts zu tun: beide sind durch eine vierhundert bis achthundert Kilometer breite Ebene getrennt und geologisch haben sie ganz unterschiedliche Ursachen.
Dem riesigen Bogen Kilometer für Kilometer - in Alaska Meile für Meile - folgend, erreiche ich auf dem Alaska Highway bei Beaver Creek wieder kanadischen Boden. Neuer Name fürs gleiche Gebirge (nun St.Elias-Mountains), neuer Name für den Nationalparks (nun Kluane Nationalpark), gleiche weglose, grandiose Wildnis, die allenfalls am äußersten Rand durch ein paar kurze Wanderwege erschlossen ist.
"Wir wollen den Einfluss des Menschen auf das Ökosystem so gering wie irgend möglich halten!" erklärt mir die Rangerin des Nationalparks. Gut gemeint! "Aber wie soll der Mensch ein Verständnis für die Natur aufbauen, eine Beziehung zu ihr schaffen, um sie als etwas Wertvolles, als etwas Schützenswertes zu begreifen, wenn er sie gar nicht erleben darf?" frage ich zurück. Sie schaut mich nur mit großen, verständnislosen Augen an.
Bei der Einrichtung dieses (und anderer) Nationalparks ging man im fernen Ottawa sogar soweit, die gesamte Bevölkerung der First Nations aus dem Nationalpark auszusperren. Ihnen jegliche Jagd oder Nutzung des Landes zu untersagen. Auf einem Gebiet, das bislang ihre Heimat war, ihnen als Lebensgrundlage diente, wo sie Rentiere erlegten, Pilze und Beeren sammelten, Bäume für ihre Behausungen fällten. Wo sie nachweislich eine nachhaltige Landnutzung betrieben hatten. Seit Jahrtausenden schon! Raus! Ende! Von heute auf morgen!
Natürlich wehrten sich die Indianer.
Nach vielen Jahren des Kampfes dürfen sie heute wieder jagen und sammeln. Wie seit Urzeiten. Ja, sie dürfen sogar ein gewichtiges Wort in der Pflege und Erhaltung des Nationalparks mitreden. Ich denke, kundigere Berater hätte man sich kaum an Bord holen können. Nach wie vor leben ja viele Indianer von der Natur - und im Einklang mit ihr! Trotzdem kollidieren hier häufig traditionelle und westliche Anschauungen. Das Gespräch mit der Rangerin endet schließlich in einem Deal: ich spende ihr zwanzig Dollar für die Erhaltung und Pflege des Nationalparks, sie schenkt mir eine DVD mit Bildern aus dem Innern des Nationalparks, "damit ich mir eine Vorstellung von der Schönheit machen kann", wie sie sagt. Ein persönliches Erleben wäre mir lieber gewesen!
Damit auch Ihr Euch eine Vorstellung von der Schönheit des Kluane Nationalparks machen könnt,
gibt's rechts ein paar Bilder von der DVD.
Der Kluane Nationalpark umfasst zusammen mit seinen Nachbarn in Alaska (Wrangell Mountains) und British Columbia (Tatshenshini Alsek Park und Glacier Bay) eine Fläche von über 24 Millionen Acres, umgerechnet knapp 100.000 km2, einem Fünftel der Gesamtfläche des Staates Yukon Territories! Als besonders schützenswertes Gebiet ist er inzwischen auch 'UNESCO World Heritage Site' und Bioshären-Reservat. Dass in Alaska einige Hundert Quadratkilometer rund um Yakutan ausgeklammert wurden, um dort Erdöl zu fördern, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Naturschutz ist eben nur relativ wichtig!
Nationalpark hin, Nationalpark her, die Landschaft ist einfach vom Feinsten! Schneebedeckte Vier- und Fünftausender grüßen am Horizont, davor flache Seen und tiefe Wälder. Breite, flache Flusstäler voller Gletscherschutt und türkisgrünem, bitterkaltem Schmelzwasser. Im Winter, wenn die Flüsse und die sumpfigen Ebenen zugefroren und von meterhohem Schnee bedeckt sind, kann man das Land hier viel besser erkunden - mit schnellen Hundeschlitten oder lauten Schneescooter kommt man dann überall dorthin, wo nun im Spätsommer kein Weg und kein Steg langführen! Zu allen Jahreszeiten aber ein ausgesprochen nettes Fleckchen Erde!
Das nächste nette Fleckchen Erde gibt's schon ein paar Kilometer weiter, am Haines Highway nämlich. Im Tatshenshini Alsek Park, noch auf dem Boden von British Columbia kann man sich ganz nach Belieben die Füße vertreten, ohne auf Trails und Einwände der Ranger Rücksicht nehmen zu müssen. Und die Aussichten auf schneebedeckte, vergletscherte Berge sind genauso atemberaubend wie auf den Postkartenbildern vom Kluane Park! Nur eben live, echt und in 3D! Auch die Vegetation ist grandios und erinnert mich an Island und den Norden Norwegens.
Am Abend ist schließlich das Städtchen Haines erreicht. Ich bin wieder im US-Bundestaat Alaska, im sogenannten Panhandle, dem Pfannenstiel, der sich vom Kernland Alaskas an der Küste entlang gen Süden zieht und neben Tausenden von Inseln und tief ins Land eingeschnittenen Fjorden auch die Hauptstadt Alaskas (Juneau) umfasst. Erreicht werden können die kleinen Ortschaften ausschließlich über den Alaska Marine Highway oder manchmal über Straßen aus Canada kommend. Viele der touristisch interessanten Orte liegen in eben diesem Panhandle. Entsprechend oft muss man über die Grenze wechseln, sofern man nicht den US-amerikanischen Marine Highway nutzt, sondern die canadischen Straßen. Gott sei Dank ist die Grenzabfertigung in beiden Ländern problemlos und schnell.
Eine dieser touristisch interessanten Orte ist Haines. Neben einer grandioser Bergkulisse und dem malerischen Chilkoot Lake mit dem ebenso pittoresken Campground ist es mit einem Reservat für Weißkopfseeadler und dem Terminal der Fähre nach Skagway gesegnet.
Skagway, Mekka der Alaskafahrer
Jedes Kreuzfahrtschiff, das auf sich hält - das sind überraschend viele - macht in Skagway fest. Vier Piers kann heute die 500-Seelen-Gemeinde anbieten, ein fünftes ist in Planung. In den Sommermonaten sind alle restlos belegt. Macht 8.000 gut betuchte Reisende pro Tag. Macht eine Menge Umsatz! Und eine Menge Verkehr in dem beschaulichen Ort aus den Tagen des Klondike Goldrausches.
1896 noch ein winziges Nest mit ein paar Hütten, erlebt es seinen ersten Boom im Winter 1897. Zehntausende Goldsucher verlassen hier die Schiffe und Kähne, die sie aus den Städten des Südes hergetragen hatten hier geht's überwiegend zu Fuß weiter auf den beschwerlichen Weg zu den zweitausendfünfhundert Kilometern entfernten Goldfeldern am Klondike. Viele Goldsucher müssen sich für den unmenschlichen Aufstieg über den Chilkoot-Pass oder den White Pass ausrüsten und viele Einwohner von Skagway verdienen sich an ihnen eine sprichwörtlich goldene Nase.
Den zweiten Boom erlebt Skagway seit den 90-er Jahren, als es zur National Historic Site erklärt, liebevoll restauriert und auf den Fahrplan aller Alaska-Kreuzfahrten gesetzt wird. In keiner Stadt liegen die Juwelierläden so dicht beisammen und in keiner Stadt machen sie so viel Umsatz wie hier! Ab September, wenn die Kreuzfahrer wieder in tropischere Regionen schippern, verfällt Skagway in Winterschlaf, um sich im Mai/Juni in Erwartung zahlungskräftiger Klientel wieder frisch zu putzen und zu schmücken.
Ist der Besucher weder auf der Suche nach Diamanten noch nach Goldnuggets, kann er sich mit fast ebenso teuren Ausflügen zu den Stationen der Goldsucher oder mit Rundflügen zu den Bergen und Gletschern der Glacier Bay und des Juneau Icefields vergnügen. Ich entscheide mich für einen Ausflug zur benachbarten Glacier Bay. Mit einem winzigen Flieger. Nur aus der Luft kann man schließlich die Grandesse dieser Landschaft und die einmaligen Gletscher wirklich bewundern.
Paul, unser Pilot schäkert mehr mit den weiblichen Gästen, als uns Informationen zu den Bergen oder den mehr als zwei Dutzend Gletschern zu geben, die wir überfliegen. Wir können ihm nur entlocken, dass die meisten Gletscher über zwanzig Kilometer lang und zwischen 1000 und 1500 Meter mächtig sind. Ganz schön viele Eiswürfel! Muir und Tsirku heißen die beiden größten, die sich bis ins Meer schieben. Interessant ist, wie sich oft mehrere Gletscher ein Tal teilen, wobei sich zwischen den Eismassen Moränen aus Gestein bilden, das mit den Gletschern zu Tal geschoben werden. Schaut von oben so aus, als ob jeder Gletscher seine eigene Fahrbahn hat.
Die Glacier Bay liegt als riesige Fjordlandschaft innerhalb der Coastal Mountains und ist natürlich auch wieder Naturschutzgebiet. Die Berge wachsen nach wie vor um etwa einen Zoll, also zweieinhalb Zentimeter pro Jahr. Die Frage, ob die Hebung, die wir ja schon vom Denali kennen, auf das Abschmelzen des Eispanzers und dadurch einer Entlastung des Gebirges zurückzuführen ist oder auf das Unterschieben der pazifischen und damit Hebung der nordamerikanischen Platte, konnte mir leider noch niemand mit Gewissheit beantworten. Eine überaus grandiose Landschaft ist es allemal! Auch wenn die Stunde des Rundflugs viel zu schnell vergeht!
hierzu gibt's rechts wieder eine kleine ...
Die Goldsucher von damals hatten natürlich noch keine Flugzeuge und somit nur zwei Möglichkeiten, das Küstengebirge zu überwinden, um zum Bennet-Lake zu kommen, von wo aus sie per Boot auf dem Yukon bis nach Dawson schippern konnten. Der See liegt keine fünfzig Kilometer von Skagway entfernt, allerdings 700 Meter höher. Ein möglicher Weg hinauf führte über den White Pass, hatte keine großen Steigungen, war aber in miserablem Zustand, und hieß nicht umsonst Deadhorse Trail. Außerdem sei er von Wegelagerern und Plünderern gesäumt gewesen. Keine gute Wahl!
Die meisten Stampeder entscheiden sich daher für den Chilkoot Trail im Nachbartal. Am Chilkoot Pass ist dort zwar ein 800-Meter-Anstieg im 45-Grad-Winkel zu bewältigen, aber sonst gilt der Weg als relativ sicher. Also schleppen sich zehntausende, völlig unerfahrene Stadtmenschen den steilen Berghang hinauf. Im tiefsten Winter. Bei 20 Grad unter null. Im Schneesturm und bei Eislawinen. Doch es gibt kein Zurück. Das Gold ruft! Und der Pass ist überhaupt nur im Winter passierbar!
Das Ganze nicht nur einmal! Nicht zweimal! An die vierzig Aufstiege sind zu bewältigen, jedes Mal mit 25 Kilo Gepäck auf den Schultern. Denn oben warten die canadischen Grenzer und kontrollieren, ob jeder die vorgeschriebene Ausrüstung und Verpflegung für ein Jahr wirklich dabeihat! Schließlich soll unterwegs und auf den Goldfeldern niemand verhungern! Alles zusammen summiert sich das auf etwa eine Tonne Gepäck! Und die muss auf menschlichen Rücken zum Pass hinaufgeschleppt werden! Mulis oder Pferde schaffen diese Steigung nicht! Einzige Alternative: eine Gepäck-Seilbahn, die sich aber keiner leisten kann oder leisten will.
Wenige Monate später wird schließlich die Eisenbahnlinie über den White Pass fertiggestellt, die nun all die Goldsucher und ihre Ausrüstung für wenige Dollar nach oben bringen könnte. Leider ist der Klondike-Goldrausch da schon wieder Schnee von gestern und der Bahn gehen plötzlich die Passagiere ab. Pleite ist angesagt! So richtig ins Geschäft kommt die White-Pass-Eisenbahn erst wieder in den 1990-er Jahren, als sie als Touristenmagnet für die Region entdeckt wird. Heute bringt sie die Passagiere der Kreuzfahrtschiffe für ein paar Dollar mehr nach oben als damals alle Klondiker zusammen. Imbiss in Carcross inclusive. 120 Dollar für drei Stunden Bimmelbahn sind ja auch ein stolzer Preis!
Gott sei Dank führt heute auf der gegenüber liegenden Talseite eine gut ausgebaute Straße über den Pass, auf der man - Dank zahlreicher Ausweichstellen - die Schönheit der Landschaft, die steilen, dicht bewaldeten Talwände, die grünen Gletscherseen und den Verlauf der alten Eisenbahntrasse viel gemütlicher genießen kann als im rumpelnden, teuren, überfüllten Eisenbahnwaggon des letzten Jahrhunderts. Die Gegend ist wirklich beeindruckend, insbesondere oben am Pass und an der Abfahrt zum Lake Bennet, wo die Goldsucher damals ihre Boote zimmern mussten. Vermutlich hatten die Goldsucher damals allerdings so gar kein Auge für die grandiose Schönheit dieser Berge! (Wie es den Goldsuchern weiter erging, könnt ihr hier nachlesen).
Die Schönheit der Berge erfreut Herz und Sinne. Straßenbauern ist sie allerdings ein gewaltiger Dorn im Auge. Daher führt der Highway zur nächsten Station an der Küste -Stewart und Hyder - durchs menschenleere aber verkehrsgünstige Hinterland, vom Panhandle Alaskas nach British Columbia, zurück ins Yukon Territory, auf dem Alaska-Highway nach Osten und kurz vor dem berühmten Schilderwald von Watson Lake auf dem malerischen und abwechslungsreichen Cassier-Stewart-Highway nach Süden. Das ganze weit weg von jedem Berg. Glücklicherweise auch weit weg von jedem Regen! Obwohl sich der Sonnenschein gegen die grauen Wolken einfach nicht recht durchboxen kann.
Ein Schweizer Pärchen hat sich hier im unberührten, menschenleeren Niemandsland einen Lebenstraum erfüllt. Bell II heißt ihre Lodge auf halbem Weg am Cassier-Stewart-Highway, ganz lakonisch nach der zweiten Brücke über den Fluss Bell benannt. Gegen mehrere (hundert) Dollar pro Nacht kann man hier im Stil Schweizer Almhütten nächtigen, mit 4-Sterne-Luxus, Zimmermädchen und Frühstücksbuffet vom Feinsten. Gegen ein paar weitere (hundert) Dollar kann man sich zu einem der -zigtausend Seen im Umland fliegen lassen, die Angel auswerfen oder ein paar Tage bei Fuchs und Hase, resp. Bär und Moose verbringen (Moskitospray nicht vergessen, das ist im Preis nicht enthalten!) Winter geht's per Helikopter zu fast zweihundert abenteuerlichen Tiefschneepisten, ein Hobby, dem viele Canadier gerne frönen. Ob sich der Traum unterm Strich rechnet, wollte mir keiner der beiden sagen. Der Parkplatz vor dem Resort war allerdings auffallend leer. Aber allein schon hier draußen zu leben ist ein Traum für sich! Selbst ohne Buffet oder Zimmermädchen!
Das Städtchen Stewart (British Columbia) und seine Nachbargemeinde Hyder (Alaska) sind ein absolutes Unikum an dem Weg gen Süden und lohnen den malerischen Abstecher allemal. "In Hyder liegt der Hund begraben" heißt es im Reiseführer, was meines Erachtens noch hoffnungslos untertrieben ist. Ein schlecht sortierter General Store und halb verfallene Hütten sind alles, was der winzige Weiler zu bieten hat. Der Grund dafür, dass so viele Touris dennoch den Weg hierher suchen, liegt gleich hinter der letzten Hütte: dort sollen sich - vor allem im Herbst, wenn die Lachse zu ihren Laichplätzen wandern - Dutzende von Braunbären einfinden und sich an den träge gewordenen Lachsen sattfressen. Ein gefundenes Fressen - auch für jede Kamera! Leider sind all die Bären schon satt oder gerade auf Verdauungsspaziergang - jedenfalls lässt sich zwei Tage lang kein einziger Meister Petz blicken! "Manchmal brauchen die Bären einen Ausgleich zu den fetten Lachsen und fressen dann lieber Beeren oder Gräser!" erklärt uns der Ranger vor Ort. Ja, eine ausgewogene Diät ist wichtig für einen gesunden Winterschlaf!
Das zweite Highlight von Hyder liegt zwanzig Kilometer weiter hinten, am Ende einer steilen, kurvenreichen, schmalen Schotterstraße. Die zudem oft im Nebel versinkt! Wenn der aufreißt, hätte man aus 1200 Meter Höhe einen tollen Blick auf den Salmon Glacier, der sich als zwei Kilometer breiter Eisstrom vom Berg herunterwälzt - und sich vor einem Felsmassiv aufgabelt. Was zunächst aussieht, als ob sich der Gletscher in zwei entgegengesetzte Täler ergießt, erklärt sich bald an einer Infotafel. Danach liegt unter beiden Zungen ein großer unterirdischer See, der von Schmelzwasser beider Gletscher gespeist wird. Mit einem grandiosen Eisbruch soll sich dieser See jedes Frühjahr dann seinen Abfluss suchen - und dabei das halbe Tal überschwemmen. Sicher ein Ereignis der ganz besonderen Art! Von oben schaut - jetzt im Herbst - das Eisfeld eher wenig einladend aus, eine Ansammlung übereinander getürmter, schmutzig grauer Eismassen, abgrundtiefer Spalten und trügerischen Seracs. Nicht eben der rechte Ort für eine Eiswanderung!
Auch der Salmon Glacier und seine unmittelbaren Nachbarn ziehen sich - trotz der immensen Schneemengen im Winter - in den letzten Jahren deutlich zurück. Recht interessant ist, in welch kurzer Zeit das Leben danach die blanken Felsen, die über Jahrtausende vom Gletschereis bedeckt waren zurückerobern kann. Nach drei bis fünf Jahren haben sich dort Moose und Flechten angesiedelt, nach weiteren fünf Jahren Gräser und kleine Büsche und nach weiteren zehn Jahren die ersten Bäume. Nach weniger als hundert Jahren ist der ehemals nackte Fels von dichtem nordischen Wald bedeckt. "Die Natur wird's schon richten!" Sofern man ihr nicht ins Handwerk pfuscht!
Stewart und Hyder liegen am Ende des Portland Canal, eines schmalen Fjords, der sich über 180 Kilometer ins Landesinnere erstreckt und die südliche Grenze des Alaska-Panhandles bildet. Diesen zeitraubenden Umweg nehmen nicht einmal die Fährschiffe des Alaska Marine Highway, sodass Hyder die einzige US-Siedlung ist, die ausschließlich über kanadische Straßen erreicht werden kann. Auf denen rollt auch bald die Lady Grey wieder entlang. Weiter gen Süden, zum nächsten Hafen in ähnlicher Lage: Prince Rupert. Dort soll der seit Monaten gebuchte und interessanteste, zweite Teil meiner 'Alaska-Kreuzfahrt des kleinen Manns' starten.
Vor der Einschiffung ist noch die Besichtigung der alten Fischfabrik in Port Edward angesagt, die direkt am Weg liegt. Über fünfzig Jahre lang wurden hier Thunfisch und Lachs tonnenweise zu Konserven verarbeitet, die direkt ins Mutterland geschickt wurden, um auf den Tellern britischer Adliger zu landen. Danach war das Meer soweit leergefischt, dass sich die Fabrik nicht mehr rentierte und die hohen Herrschaften sich neuen Brotbelag suchen mussten. Die Fabrik ist heute ein interessantes Museum und man kann sich die Enge, den Gestank und den Lärm, in dem Hunderte (meist japanische oder philippinische) Arbeiter schuften mussten, lebhaft vorstellen.
Vom Regen in die Traufe: die Inside Passage
Früh am nächsten Morgen legt die Fähre von Prince Rupert ab, die mich weit in den Süden, an die Nordspitze von Vancouver Island bringen soll. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass es wieder mitten zwischen Hunderten von Inseln und Schären hindurchgehen soll. Insider nennen diese Strecke, die an der nordwestlichen Pazifikküste Canadas verläuft die Inside Passage. Nicht, weil sie das sagen, sondern weil die Route über weite Strecken hinter vorgelagerten Inseln verläuft, die zumindest ein wenig Schutz vor der rauen Witterung des offenen Pazifiks bieten.
Das Wetter ist zwar nicht ganz so regnerisch und neblig wie auf den früheren Etappen meiner Mini-Kreuzfahrt, aber von Sonnenschein noch weit entfernt. Kein Wunder, dass die Sitze auf dem Oberdeck weitgehend verwaist bleiben. Die Landschaft ist aber wiederum vom Feinsten, ständig eröffnen sich Ausblicke in neue Fjorde und Täler, die vom Haupttal, das wir entlangfahren, abzweigen. Teilweise ist die Fahrrinne, der sogenannte Grenville Channel gerade mal vierhundert Meter breit, links und rechts ragen die Talwände viele Hundert Meter in die Höhe. Kein Wunder, dass der Kapitän diese Strecke am liebsten bei Tageslicht fährt. Trotz all der elektronischen Helferlein, ohne die das hier sicher ein Höllentrip wäre. Dabei ist unsere Northern Expedition ja ein deutsches Schiff, wie der Purser stolz erzählt, erst seit fünf Jahren im Dienst und speziell für Fahrten in diesen stürmischen Breiten ausgelegt.
So ist von den teilweise meterhohen Wellen während der Etappen auf dem offenen Pazifik im Innern des Schiffs wenig zu spüren und der Kaffee schwappt beim Imbiss nicht über den Plastikbecher. Ganz stolz erzählt der Purser von seinem Schiff, auch davon, dass die Mannschaft (weit über die Hälfte sind Frauen) nicht den gleichen 'Food Fraß' vorgesetzt bekommt wie die Passagiere, sondern ein eigener Koch ihnen viele Leckerlis zaubert. Vor allem Fisch natürlich! Vielleicht ist das auch gut so, denn die Besatzung ist zwei Wochen durchgehend im Dienst und muss in diesen Fahrwassern natürlich allzeit fit sein! Anschließend haben sie zwei Wochen frei. Auch kein schlechtes Leben!
Das Wetter in Port Hardy, dem Zielhafen der Mini-Kreuzfahrt ist zwar noch etwas durchwachsen, aber mit jedem Kilometer, den ich am nächsten Tag gen Süden rolle, wächst die Zahl der Sonnenstrahlen. Als ich schließlich im Strathcona Nationalpark im Herzen von Vancouver Island einrolle, ist von Wolken weit und breit nichts mehr zu sehen und das Quecksilber zeigt satte fünfundzwanzig Grad. Celsius! Da muss ich natürlich die Wanderschuhe hervorkramen und die Gegend auf Schusters Rappen erkunden! Was soll ich sagen? Schon wieder ein besonders nettes Fleckchen Erde! Schroffe, besteigbare Berge. Grandiose Ausblicke. Idyllische, tiefblaue Seen. Wälder, in denen sich so manches Blatt schon herbstlich gelb färbt. Büsche voll leckerer Blaubeeren. Versteckte, romantische Campgrounds. Dazu strahlender Sonnenschein von einem tiefblauen Himmel. Was will Mensch mehr?
Ja, was will Mensch mehr? Er will, dass das Wetter so bleibt! Und es tut mir tatsächlich den Gefallen. Als ob es weiß, dass es - nach den doch mehr als tristen Tagen im Norden - einiges wiedergutzumachen hat! Gerade hier, an der Westküste von Vancouver Island, die sonst eher für ihre Regenrekorde berüchtigt ist, strahlt die Sonne ohne Ende.
Also die Zeit des schönen Wetters nutzen. Wer weiß schon, wie lange es hält? Also flugs die paar Kilometer hinüber an die Westküste der Insel rollen. Die Entfernungen hier auf der größten Insel Canadas sind überschaubar: gerade mal 270 Kilometer stehen am Abend auf dem Tacho, als ich in Tofino einrolle. Welch ein Unterschied zu den Entfernungen in den Weiten des Nordens! Nicht, dass die Weite nicht auch ihren Reiz hätte!
Tofino kennen die Leseratten unter Euch aus dem Buch Der Schwarm von Frank Schätzing. Für die Nicht-Leseratten eine echte Empfehlung! Gibt's auch als Hörspiel! Ein paar mutierte Killerwale greifen darin die Boote von Touristen an, der Anfang eines fesselnden Krimis zwischen menschlicher Nutzung der Meere und einer maritimen Intelligenz, die sich mit allen Mitteln dagegen wehrt und die Menschen ausrotten will. Sehr aufrüttelnd und toll geschrieben!
Just diese Killerwale muss ich sehen! Die Saison ist allerdings schon fast vorbei und mehrere Boote in Tofino mussten ohne eine einzige Sichtung umkehren. In Ucluelet, der zweiten Basis scheinen die Chancen besser zu stehen und am kommenden Morgen tuckern wir - eingemummt in wärmende und hochmodische Sicherheitsbekleidung - im wendigen Zodiak aufs offene Meer hinaus. Carol, unsere Rangerin hat ein gutes Näschen, schon im ersten Anlauf entdecken wir eine Familie Orcas, die geruhsam und gleichmäßig dahinzieht. Mal abtauchen zum Fressen, dann wieder auftauchen um Luft zu schnappen. Das geht über eine Stunde lang, ohne dass sich die Tiere von den Booten stören lassen. Oder sie gar angreifen (wie im Roman). Von einem Angriff irgendwelcher Wale auf Menschen hat Carol übrigens noch nie gehört, das Buch aber kennt sie offenbar aus Nachfragen verängstigter Touris.
Die riesigen, erstaunlich wendigen und höchst eleganten Tiere zu bewundern und Fotos von ihnen zu machen, ist allerdings zweierlei! Ohne jede Vorankündigung schießen sie nach Ihrem Fress-Tauchgang durch die Oberfläche, atmen aus (Blas) und tauchen nach einem eleganten Schwung gleich wieder ab. Gerade mal drei, vier Sekunden sind sie an der Oberfläche zu sehen. Selten lassen sie sich mal länger treiben, dann kann man wenigstens ihre Rückenflossen oberhalb des Wassers bewundern, die beim Männchen schon mal an die zwei Meter hoch werden kann.
Unterschieden werden die Orcas - wie die meisten anderen Wale auch - in zwei große Gruppen: die Residents und die Transients. Die Residents bleiben das ganze Jahr über in arktischen Gewässern, während die Transients im Winter in die wärmeren Gewässer um Hawaii ziehen. Dort bekommen die Transients auch ihre Jungen, die vergleichsweise schlecht gegen die Kälte geschützt sind. In den tropischen Gewässern fressen sich die Kiddies so viel Fett an, dass sie im Sommer mitsamt ihren Eltern in die arktischen Fressgründe wandern können, ohne zu erfrieren. Die Resident-Jungen werden im Unterschied dazu erst im Sommer geboren, wenn die Wassertemperaturen halbwegs erträglich sind. Bis zum Winter müssen sie sich dann ihre isolierende Speckschicht anfuttern, aber an Fressbarem herrscht hier oben in den kalten Gewässern kein Mangel. Resident- wie Transient-junge bleiben zwei bis drei Jahre bei Ihren Eltern, ehe sie sich einem Junggesellenrudel anschließen und sich später eine Partnerin suchen, der sie das ganze Leben lang treu bleiben. Viele von den Residents haben von den Walbeobachtern inzwischen Namen bekommen, um sie besser verfolgen und orten zu können. Unterscheiden kann man die Orcas vor allem an Form und Größe der Rückenflosse sowie an der weißen bis grauen Färbung rund um die Rückenflosse.
"Warum heißen die Orcas denn Killerwale?" fragt Julia, eine Mitfahrerin. "Das werde ich Ihnen zeigen!" sagt die Rangerin und macht mit dem Boot kehrt. Wenig später stoppen wir vor einer Felseninsel, auf der sich vielleicht fünfzig Seelöwen in der Sonne aalen. "Wenn einer der Orcas auch nur in die Nähe der Insel kommt, stürzt sich die ganze Horde ins Wasser. Der eine oder andere wird dann schon mal von einem Orca verspeist. Natürlich nicht ohne vorherigen, teils heftigen Kampf." Bei dem ein Orca auch schon mal einen Teil seiner Rückenflosse einbüßen kann. "Das ist doch Selbstmord. Warum bleiben die Seelöwen nicht auf der Insel, da kann ihnen kein Wal was tun?" "Nun, einmal scheint es der angeborene Instinkt der Seelöwen zu sein. Und vermutlich glauben sie, im Wasser wendiger zu sein und besser fliehen zu können. Aber die Wale sind trotz ihrer Größe erstaunlich wendig."
"Und meist gewinnen die Orcas!" ergänzt unsere Rangerin nach einer Weile.
Viel zu früh sind wir zurück im Hafen und pellen uns aus den hochmodischen Ganzkörperkondomen. Auf den Tipp der Rangerin hin suche ich mir einen netten Nachtplatz am Wya Point Resort, einem Campingplatz mit einfachen Hütten und Jurten. Von dieser Bucht mitten im Pacific Rim Nationalpark schweift mein Blick noch lange über die endlosen Weiten des Pazifischen Ozeans, in dem die Sonne glutrot versinkt. Irgendwo dort hinterm Horizont liegen Hawaii und Polynesien, die Philippinen und Neuseeland, allesamt noch weiße Flecken auf meiner Landkarte. Erst einmal aber lasse ich die vergangenen sechs Monate Revue passieren, die mich buchstäblich from Coast to Coast durch das zweitgrößte Land der Erde gebracht haben. Noch lange nach Sonnenuntergang sitze ich auf den Felsen und lasse meine Gedanken schweifen ...
Vor Ucluelet und dem Wya Point sind es auch nur noch ein paar Hundert Kilometer bis zur Südspitze der Insel und zur Hauptstadt von British Columbia.
(Mega-)Cities im 72-Stunden-Takt
Well, bei Victoria, der Hauptstadt von British Columbia, von einer Megacity zu sprechen, ist vielleicht etwas viel versprochen. Aber nach den Monaten im fast menschenleeren Norden kommt mir selbst diese Stadt mit ihren knapp 80.000 Einwohnern wie eine Großstadt vor. Dabei ist der interessante Teil rund um den Inner Harbour schnell erkundet. Eingerahmt vom Hotel Fairmount Empress, dem ältesten und nach wie vor ersten Hotel am Platz sowie vom Legislative Building bildet der Hafen voller teurer Luxusjachten den unverkennbaren, dabei sehenswerten und recht attraktiven Stadtkern.
Direkt am Hafen beginnt auch die Government Street, die Einkaufsmeile schlechthin, in der alles zu finden ist, was das Commonwealth of Nations zu bieten hat und was das Herz eines Kreuzfahrt- oder Wohnmobil-Touristen erfreuen könnte. Denn für beide scheint Victoria gleichermaßen interessant.
Was in Victoria ins Auge sticht, ist das Fehlen von Hochhäusern. Rund um den Inner Harbour, ja selbst an den attrakttiven und entsprechend 'preiswerten' Buchten rund um die Stadt findet man kein Gebäude mit mehr als zwei oder drei Stockwerken. Meist etwas luxuriösere Stadtvillen wie das Huntington Manor (heute ein Hotel) oder auch einfache Häuser mit gepflegtem englischen Rasen vor der Tür und einer Aussicht, die auf einem Schiff nicht besser sein könnte. Haben die Stadtoberen etwa von Ihren Nachbarn in Vancouver gelernt? Nein, schon in den Gründungstagen der Stadt (so um 1850 - damals existiert Vancouver noch nicht einmal auf dem Reißbrett) führten die Stadtväter eine Sondersteuer für alle Gebäude über drei Stockwerken Höhe ein. Das Stadtsäckel war leer und man suchte nach neuen Einkünften.
Der Stadtsäckel scheint auch weiterhin schlecht gefüllt zu sein, denn das zweite was in Victoria auffällt, sind unzählige Parkverbotsschilder bzw. Parkplätze mit Bezahlung. Ich behaupte mal, es gibt in der ganzen Stadt keinen Zentimeter Straßenrand, der nicht irgendwie durch ein Parkverbot geregelt oder nur gegen Bezahlung als Parkplatz genutzt werden darf!
In gewisser Weise ist Victoria ein weiterer Endpunkt meiner Canada-Durchquerung. Zumindest steht hier der 'Meilenstein Null' des TCH, dem ich bei meiner Canada-Querung einige Tausend Kilometer weit gefolgt bin. Ulkig erscheint allerdings, dass es hier auch einen 'Meilenstein Null' gibt. Ein zweiter, identischer Meilenstein steht nämlich am östlichen Ende des TCH, in St.Johns auf Newfoundland! Wo ist denn nun bitte der Beginn dieser transkontinentalen Straße? Hier oder drüben? Oder muss ich meine Durchquerung noch einmal anfangen? Oder wie?
Auf ein paar Abstecher sollte man in Victoria nicht verzichten, zumal alle zu Fuß zu erreichen sind. Zunächst einmal geht es zur vergleichsweise kleinen Chinatown, die gerade mal aus einer Straße, ein paar schmalen Gassen und dem fotogenen Gate of Harmonious Interest besteht.
Eine unterhaltsame Angelegenheit ist die Stadtrundfahrt in einem der quietschegelben Flusspferde, die es in dieser Art offenbar nur hier gibt. Das Hippo genannte Wesen ist ein Zwitter aus Omnibus und Boot und taucht nach einer ganz normalen Stadtrundfahrt einfach ins Hafenbecken und bietet die Möglichkeit, die Stadt auch von See her zu besichtigen. Eine neue und nicht uninteressante Alternative!
Auf keinen Fall versäumen sollte man aber einen Besuch der Fishermen's Wharf, nur ein paar Schritte abseits des Inner Harbour. "Warum sollen wir Grundsteuer bezahlen?" fragten sich einige findige Aussteiger, setzen ihre Bretter-hütten auf zusammengebundene Boote und machten sie am Kai fest. Schon war ein neuer Lebensstil geboren: "Leben auf dem Wasser". Heute sind die bunten Hütten mit den farbenfrohen Blumenkästen nicht nur eine Attraktion für Touristen, sondern auch weitere Einnahmequelle für den chronisch leeren Stadtsäckel, denn kaum waren die ersten Hütten festgemacht, erhob die Stadt eine "Hausbootsteuer"! So einfach trickst man eben die (damals noch) britische Bürokratie nicht aus!
Ein besonderes Highlight in Victoria ist das Museum of British Columbia. Na ja, in der Landeshauptstadt muss so etwas schon sein! Neben einer Darstellung der Naturgeschichte dieses Landes finden sich derzeit zwei Sonderausstellungen: 'Kunst der First Nations an der Westküste' und 'Die Wikinger' Eine so interessant wie die andere!
"Warum gerade die Wikinger? Die waren doch nie in British Columbia!" frage ich die Dame an der Kasse. "Well, im Fernsehen läuft gerade eine Serie über die Wikinger - sehr erfolgreich. Davon wollen wir ein wenig profitieren!" Eine passende Erklärung für eine Ausstellung, die das halbe Museum vereinnahmt! Parallel läuft natürlich ein passender Film im museumseigenen IMAX-Kino. Das nenne ich Geschäftssinn! Erinnerungen an Reykjavik und die Statue von Leifr Eriksson werden wach ...
Wirklich imposant dagegen ist die Ausstellung über die First Nations, die Indianer der Westküste. Ihre Vettern in Alberta, Manitoba oder Saskatchewan wurden ja von der Ausrottung der Bisons (ihrer Lebensgrundlage) so 'überrascht', dass sie bei den Briten um Hilfe zum Überleben betteln mussten (um es einmal überspitzt auszudrücken). Über die Treaties wurden sie gegen magere Zugeständnisse in Reservate abgeschoben und ihr Land war frei für die Besiedelung durch die Weißen.
Ganz anders hingegen die Indianer an der Westküste: sie lebten in erster Linie vom Fischfang und vom Handel zwischen den Stämmen bzw. später mit den Weißen. Sie kannten keine Not, sodass sie zum Überleben nicht auf irgendwelche Verträge angewiesen waren und bei den Verhandlungen mit den Regierungsvertretern einen erheblich besseren Stand hatten. So finden sich heute an der Westküste (d.h. in British Columbia) erheblich mehr selbstverwaltete Siedlungen und Regionen der First Nations als irgendwo sonst in Canada (ausgenommen die Territorien Nunavut und Northwest Territories, die vollständig von First Nations bzw. Inuit (Eskimos) verwaltet werden).
Damit konnten die Indianer im Westen auch ihre Lebensweisen weitgehend beibehalten, als Fischer waren sie ja schon vor Ankunft der Weißen weitgehend sesshaft gewesen. So blieben auch ihre Gebräuche, ihre Kultur und ihre Kunst weitgehend unverfälscht erhalten. Den besten Deal konnten offenbar die Haida Gwaii erzielen, die seit Urzeiten auf der abgelegenen - und offenbar strategisch wie wirtschaftlich uninteressanten Inselgruppe der Queen Charlotte Islands leben. Die gesamte Inselgruppe wird von ihnen verwaltet - und nur ein paar Weiße leben in den ihnen zugewiesenen Reservaten! Entsprechend ursprünglich blieb die Kultur der Indianer erhalten. Allem voran Schnitzereien von Totempfählen und Masken, die inzwischen nicht nur im Museum zu bewundern, sondern in zahlreichen Kunstgalerien für richtig teures Geld zu erstehen sind.
Ein Museum völlig anderer Art beherbergt das Schlösschen Craigdarroch Castle im Osten der Altstadt. Um 1890 vom Schotten Robert Dunsmuir erbaut, der mit Kohle aus British Columbia die ganz große Kohle gemacht hatte, muss es damals ein Prestigebau erster Güte gewesen sein: vier Stockwerke, vierzig Zimmer, 27 Feuerstellen, dazu Zentralheizung, elektrische Beleuchtung und Holzarbeiten vom Feinsten. Jedermann sollte den Reichtum des Hausherrn sehen. Von wegen 'geizige Schotten'! Dummerweise erlebte Herr Dunsmuir die Fertigstellung seines Prachtbaus nicht mehr und seine Frau und seine Kinder fühlten sich in den protzigen Mauern nie recht wohl.
Später durchlief der Bau als Militärhospital, Universitätscollege, Bürohaus und Musikschule eine arg wechselvolle Geschichte, bevor es seit 1969 liebevoll als Museum restauriert wurde und nun zumindest für den eigenen Unterhalt sorgen kann. Manchmal sogar ältere Herrschaften mit noch älteren Fahrzeugen in sein altes Gemäuer lockt.
Nach ein paar kürzeren Ausflügen zu unbedeutenden Parkverboten und Parkscheinautomaten - mit zugehörigen Sehenswürdigkeiten - rolle ich am Dienstagmittag zur Fähre, die die Lady Grey und mich in knapp eineinhalb Stunden zurück zum Festland schippert. Mitten hinein nach Vancouver City, mitten hinein in den Feierabendstau an einer bösen Baustelle am Fraser River.
Hurra, die Zivilisation hat mich wieder! Ade, Einsamkeit des Nordens!
Über Vancouver, die von vielen Reisenden gelobte und mit Abstand größte Stadt von BC und - nach Toronto - zweitgrößte Stadt Canadas kann ich Euch gar nicht allzu viel berichten. Ihr kennt ja meine Vorliebe für Großstädte und Vancouver macht da keine Ausnahme! Menschen, Menschen, Menschen! 580 Tausend habe ich gezählt, dazu fast zwei Millionen aus dem näheren Umland, die morgens und abends die Einfallstraßen verstopfen. Sofern sie nicht mit dem Skytrain fahren, einer Art U-Bahn auf Stelzen, die zumindest die allernächsten Vororte stau- und stressfrei anbindet.
Im krassen Gegensatz zu Victoria reiht sich in Downtown Vancouver ein Wolkenkratzer an den anderen. Gerade entlang der Waterfront will sich keiner den Blick aufs Wasser entgehen lassen - auch wenn's ein paar hundert Dollar Miete mehr kostet. Interessanterweise sind die meisten Wolkenkratzer Wohnhäuser und keine Bürokomplexe, wie oft anderswo. Damit ist auch abends in der Innenstadt eine Menge los. Ja, man hat sogar eine eigene Entertainment-Insel direkt neben dem Wolkenkratzermeer geschaffen.
Auf Grenville Island gibt's praktisch nur Restaurants, Kneipen und Theater. Auch der sehenswerte Farmer's Market ist hier zu finden. Der Farmer's Market (in Vancouver heißt er interessanterweise People's Market) ist eine Art Viktualienmarkt unter Dach und Fach, in dem lokale Händler in zahllosen kleinen Shops alles anbieten, was sie produzieren. Leckeres Brot findet man ebenso wie frisches Obst und Gemüse. Anhänger aus Silber gibt's gleich neben dem Stand für selbstgestrickte Pullover und Mützen, indische Räucherstäbchen gleich neben dem Seafood-Stand. Das Ganze durchwirkt von zwei Dutzend Foodstalls, an denen man Leckereien aus aller Herren Ländern probieren und erstehen kann. Ich finde, eine tolle Einrichtung, die in jeder kanadischen Stadt zu finden ist, einen prima Querschnitt durch regionale Produkte zeigt - und nebenbei immer ein paar bunte Fotos abgibt.
Erwähnenswert sind vielleicht noch die 230 Parks, die in Vancouver verstreut liegen wie Rosinen im Kuchen. Wohltuendes Grün inmitten des Häusermeers und der ideale Platz, abends joggen zu gehen. Oder die Pedale zu treten. Oder die Skates anzuziehen. Oder den Hund Gassi zu führen. Oder einfach nur Abstand zu finden von der Hektik ... Der längste dieser Grünstreifen führt vom zentralen Stanley Park an der Westseite der Downtown einmal rund um die Stadt - meist recht malerisch an Wasser entlang. Achtundzwanzig Kilometer Rad-, Fuß- und Skateweg (natürlich hübsch voneinander getrennt, damit man sich nicht gegenseitig über den Haufen fährt) führen um Inner Vancouver herum. Auch eine prima Idee, die Stadt vom Sattel aus zu erkunden!
Einer der Punkte, an den man auf der Runde unweigerlich vorbeikommt ist der Morton Park. Mit einem Dutzend Statuen lachender Menschen sollen hier die Vancoverianer daran erinnert werden, die gesündeste aller Emotionen im Alltagstrubel nicht zu verlernen ...
Der zweite Punkt, an dem man auf der Runde um die Stadt fast zwangsweise vorbeikommt ist der Canada Place, der geschäftige Verkehrsknoten in Downtown, an dem nicht nur die großen Kreuzfahrtschiffe festmachen, sondern auch Bus und Bahn, Wasserflugzeug und Skytrain, Wassertaxis und reguläre Taxis auf Fahrgäste warten. Umsteigen war noch nie so einfach! Das Ganze überdacht von einer blendend weißen Segelkonstruktion, die nicht zuletzt den Olympischen Winterspielen 2010 zu verdanken ist.
Die Chinatown von Vancouver wird in jedem Führer hoch gelobt als größte Chinatown Canadas. Zwar ist der Anteil der fernöstlich aussehenden Menschen in Vancouver auffallend groß, ihre Town aber eher enttäuschend. An der East Pender Street findet man ein paar Läden mit chinesischem Porzellan, chinesischen Möbeln oder chinesischer Kleidung. Den Flair, die Suppenküchen, die chinesischen Leuchtreklamen, das Leben auf der Straße sucht man hier aber vergeblich. Nicht einmal die Damen tragen den Quipao, die meisten Herren eher Anzug und Krawatte! Allenfalls drei hübsche Murals erinnern an die bewegende Geschichte der Chinesen und den Einfluss, den sie von Anfang an in dieser Stadt hatten.
Nach drei Tagen auf Schusters Rappen, in Skytrains und Wassertaxis habe ich die interessantesten Spots in Vancouver abgeklappert, nebenbei ein paar - völlig untypische - Souvenirs erstanden und schon wieder mehr als genug vom Stadtleben!
Der Weg aus der Metropole hinaus ist gut ausgeschildert, führt er doch zum zweiten Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2010, nach Whistler, 150 Kilometer nördlich der Metropole - ein Wintersportort aus der Retorte, wie er genauso gut irgendwo in den Alpen stehen könnte. Hier wurden die alpinen Disziplinen der Spiele ausgetragen. Auffällig allenfalls die Höhe, gerade mal 300 Meter liegt der Ort über dem Meeresspiegel; Schnee gibt's im Winter trotzdem mehr als genug!
Ist die Autobahn nach Whistler noch fast eben (sie führt über weite Strecken direkt am Meer entlang), geht's hinter dem auch im Sommer quirligen Freizeitrevier steil und fast schon gewohnt einsam den Pass hinauf in eine völlig andere Welt. Die Coastal Mountains zeigen hier ihr wahres Gesicht: schroff, abweisend und bildschön gleichermaßen.
Von der Passhöhe aus sind es auch nur noch knappe hundertzwanzig Kilometer bis zum Seton Lake nahe dem Städtchen
Lillooet, und seinem kostenlosen, trotzdem wenig besuchten Campground, auf dem ich diesen - zugegebener Maßen doch etwas länger gewordenen - Bericht tippen kann.
Nach ein wenig Durchschnaufen in der klaren Bergluft werde ich bei hoffentlich weiterhin schönem Wetter (der Wetterbericht verspricht ein stabiles Hochdruckgebiet) noch einmal durch die Rocky Mountains rollen und ein paar der frischen Beeren vernichten, die ich vom Farmer's Market in Vancouver mitgebracht habe. Vielleicht auch die eine oder andere Wanderung unternehmen, die auf der Hinfahrt im Trubel der vielen Touris zu kurz gekommen ist.
Am Dienstag muss ich dann in Calgary zum Interview antreten. Nein, nicht um einen Job in der schönsten Stadt Canadas habe ich mich beworben, sondern um ein Visum für die Vereinigten Staaten. Nach den derzeit gültigen Regeln hätte ich nach dem kurzen Abstecher nach Alaska nur noch drei Wochen Zeit, die US-Südstaaten zu durchqueren - was definitiv zu wenig ist! [Aufenthaltsdauer nach dem VWP max. 3 Monate ab Datum der ersten Einreise!] Also habe ich vor zwei Wochen ein Non-Immigrant-Visum beantragt. Bevor man das aber bekommt, muss man persönlich bei den Beamten Rede und Antwort stehen! Drückt mir die Daumen, dass sie mich als würdig einstufen, ihr geheiligtes Visum zu bekommen.