Sioux Narrows (Canada, Ontario) (GPS: 49°25,467'N; 094°03,534'W)
"Was für ein Sch.... Tag!" Dabei hatte die Woche doch so toll begonnen: Der traumhafte Camp am Sleeping Giant, das sonnige Wetter, die tolle Straße. Und nun das: Steinschlag in der Windschutzscheibe, genau im Blickfeld. So groß, dass er definitiv nicht zu reparieren ist. Eine neue Windschutzscheibe muss her! Das ist zwar nicht das 'Aus' der Reise, aber ein großes Loch in die Reisekasse wird's wohl reißen!
Schon vor einer halben Stunde hätte ich meine Lady Grey um ein Haar komplett in den Graben gesetzt. Das wäre wirklich das 'Aus' gewesen! Da fehlten keine fünf Zentimeter! Nur der Fahrer der Planierraupe konnte die Lady wieder auf festen Boden ziehen, Allradantrieb und Sperren zum Trotz!
"Heute ist nicht mein Tag!" Morgens schon die abgebrochene Zahnbürste, dann das Honigbrot, das auf dem Teppich landet ('natürlich' mit der Honigseite nach unten), später der Ausrutscher in den Graben - und nun noch der heftige Steinschlag. "Heute hast du nur Dreck in den Fingern!" Aber auch solche Tage gibt's im Leben - und auf Reisen. Da hilft kein Jammern und Weinen! Also den nächsten Camp ansteuern und den Tag in sicherer Umgebung zu einem hoffentlich guten Ende bringen!
Zurück zu den angenehmen Zeiten!
Der letzte Tagebucheintrag stammt ja noch aus den City und ist schon wieder drei Wochen her! Ich muss gehörig nachdenken, was sich inzwischen alles getan hat. Nicht alles war Mist - ganz im Gegenteil!
Die Strecke durch den nordwestlichen Teil von Ontario unterscheidet sich deutlich von den Routen unten im Süden. Tatsächlich kommt hier so etwas wie 'Canada-feeling' auf: riesige Entfernungen, kaum eine Menschenseele, winzige Dörfer (wenn man sie so bezeichnen darf). Daneben Wald und Seen, Seen und Wald und noch mindestens drei weitere Seen dazwischen! Schon ein Blick auf die Landkarte verrät etwas von dieser engen Verzahnung von Land und Wasser. In natura ist das noch viel imposanter. Allein die Georgian Bay, ein Ableger des Lake Huron kann mit dreißigtausend Inseln aufwarten. Und jede der Inseln beherbergt ihrerseits wieder Dutzende von Seen! Ich möchte mal behaupten, dass kein Ort in Canada weiter als 500 Meter vom nächsten Gewässer entfernt ist. Jetzt im Frühjahr allemal, wenn sich zu den Tausenden von Seen und Flüssen noch Pfützen, Lachen und Tümpel gesellen, die sich nach der Schneeschmelze und den schweren Regenfällen der letzten Wochen gebildet haben.
Kein Wunder, dass es hier kein Auto ohne Kupplung - für den Bootsanhänger - gibt und jeder Canadier statistisch gesehen sechs Angelruten besitzt! Die Sektion für Ruten, Rollen, Köder und Angelzubehör ist bei canadian-tire die umsatzstärkste Abteilung, gleich hinter dem Autozubehör.
Liegt ein See besonders malerisch, ist die Wahrscheinlichkeit groß, an seinen Ufern Dutzende, ja Hunderte von Wochenendhäusern zu finden, in denen sich die Menschen aus Toronto, Quebec oder auch nur der nächsten Kleinstadt vom Stress des Stadtlebens erholen. Für die Allgemeinheit bleibt da kein Platz mehr! Vom Reisenden, der einfach nur ein hübsches Stellplätzchen sucht, um sich von den Entbehrungen der letzten Sightseeingtour zu erholen, mal ganz zu schweigen!
Ab und zu haben die Offiziellen das Problem erkannt und die letzten Reste unverbauter Natur zum Provinz- oder Nationalpark erklärt. Da finden dann auch die nicht so privilegierten Camper (das ist die andere Hälfte der Canadier, die eben kein Wochenendhaus am See haben) ein Unterkommen in der Natur. Tatsächlich sind die meisten der Provinz- oder Nationalparks mit super tollen Campingplätzen ausgestattet - wahlweise mit wenig Comfort, dafür landschaftlich äußerst reizvoll gelegen oder aber landschaftlich nicht ganz so reizvoll (aber immer noch schön) gelegen und mit allem erdenklichen Komfort. Ein einfacher Stellplatz ganz ohne Strom, Frischwasser- und Abwasseranschluss ist dabei allerdings unüblich und oft nur auf Nachfrage zu bekommen.
So viel Luxus und Naturnähe will auch bezahlt werden. Die Preise rangieren hier in Ontario zwischen 20 und 50 Euro pro Nacht und Party (d.h. Camper und 3-4 Personen). Die Preise in den gut besuchten Nationalparks von Alberta und British Columbia dürften noch um einiges höher liegen. Selbst wenn man nur mal tagsüber in die Parks möchte, heißt es 'löhnen!' Kurz und gut: Natur gratis wie in Europa gibt's hier nicht! Allerdings wird fürs Geld meist auch einiges geboten: vom Toilettenhäuschen über den geplankten, ausgeschilderten und abgesicherten Wanderweg bis zum gut gesicherten Lookout. Ob man will oder nicht!
Auf Dauer zehrt das ganz schön an der Reisekasse. So habe ich mir inzwischen einen kleinen Sport daraus gemacht, zumindest dem Luxus der offiziellen Campgrounds zu entsagen und trotzdem irgendwo ein schönes Plätzchen zu finden. Die wochenendhausbesiedelten Seeufer allerdings lassen die Suche ab und zu vergeblich enden. Sicherheitsprobleme oder Ärger mit den Nachbarn gab's übrigens noch nie; allerdings ist da auch ein wenig Fingerspitzengefühl gefragt! Zumindest hier im 'Norden' (wenn man das hier schon so bezeichnen darf) geben die Locals gerne den einen oder anderen Tipp, wo man gut - und sicher - stehen kann.
So, zurück in die Blue Mountains, ans Nordufer der Zivilisation!
"Rechts herum oder links herum?" So lautet die alles entscheidende Frage. Gemeint ist die Georgian Bay, der malerische Ableger des Lake Huron mit seinen 30.000 Inseln. Trotz (oder wegen?) des touristisch gut erschlossenen Ostufers entscheide ich mich für die Westseite, für die Bruce Peninsula, die wie ein ausgestreckter Zeigefinger in den Lake Huron ragt und ihn von der Georgian Bay trennt. Die Halbinsel ist Teil des Niagara Escarpment, dem Höhenzug, den wir ja schon aus Niagara und den Blue Mountains kennen. Wer nicht im Auto unterwegs ist, kann die ganze Länge des Escarpment auch zu Fuß erkunden - auf dem Bruce Trail, mit 875 Kilometern dem längsten Wanderweg Ontarios.
Im Westen ist die Halbinsel flach und mit Sümpfen durchsetzt, doch im Osten locken steile Klippen und malerische Buchten in das Biosphärenreservat der UNESCO. An der Spitze der Halbinsel thront Tobermory, ein quirliges Fischerdorf und idealer Ausgangspunkt zu zwei sehenswerten Nationalparks. Der südlichere Bruce Peninsula National Park umfasst das größte zusammenhängende Mischwaldgebiet im südlichen Ontario. Dutzende von Wanderwegen laden zur Erkundung der abgelegenen Buchten und Klippen der Ostküste ein. Eine Bucht idyllischer als die andere, leises Plätschern am menschenleeren Strand. Türkisblaues, kristallklares Wasser. Unversehens wähnt sich der Wanderer mitten in der Karibik: Cuba, Trinidad, Costa Rica ... Der große Zeh im Wasser holt ihn augenblicklich in die Wirklichkeit zurück! Vier Grad Wassertemperatur! Brrrrrrrrrh!
Damit bleibt die Erkundung des nördlicheren Nationalparks Fathom Five auf Oberflächlichkeiten beschränkt, auf den Besuch der Insel mit den Flowerpots beispielsweise. Wind und Brandung (auch so etwas gibt's auf einem Binnensee von der Größe Deutschlands!) haben hier pittoreske Felsformationen geschaffen, die unverkennbar an Blumenvasen erinnern. Daher auch ihr Name. Weitere Vasen sind in Arbeit.
Die zweite, weit interessantere Attraktion des 'Fathom Five' bilden zwei Dutzend Schiffswracks aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die an den zerklüfteten und unübersichtlichen Unterwasserklippen zerschellten und sanken. Heute können sie prima per Tauchausflug erkundet werden ... wäre da nicht die etwas unerfreuliche Wassertemperatur! Ich rede mich heraus, dass ich nach 15 Jahren "etwas aus der Übung bin", aber so unrecht hat die junge Frau der Tauchschule nicht, als sie mich (mit einem breiten Schmunzeln) als "coward" bezeichnet. Zumindest bin ich nicht das einzige: von acht Interessenten gehen nur drei tatsächlich an Bord des Tauchboots. Schade! Hier sollte man wirklich im Sommer nochmal vorbeikommen!
Neben Tauch- und Wanderausflügen bietet Tobermory dem Reisenden einige weitere, unverzichtbare Attraktionen: eine Eisdiele mit leckeren Schleckereien beispielsweise, einen idyllischen Campground (Land's End), einen Laundromat für schmutzige Wäsche und einen Souvenirshop mit herrlich warmen Pullovern! Der Fish & Chips-Stand ist allerdings noch geschlossen!
Nach ein paar geruhsamen Tagen auf Schusters Rappen in dieser sehenswerten Insel- und Seenwelt bringt uns die Fähre 'Chi-Cheemaun' heil durch die Untiefen nach Manitoulin Island, die weltgrößte Insel in einem Süßwassersee (2765km2). Sie selbst beheimatet wiederum an die hundert kleinere Seen und sieht aus wie ein Schweizer Käse. Übersetzt heißt sie 'Heimat der Großen Geistes Manitou' und gehört zu großen Teilen den First Nations. Ich freue mich schon, mehr über sie zu erfahren, doch sind - trotz beginnender Reisezeit - alle Informationsstellen noch geschlossen! Schade!
Einer der - angeblich auch spirituell ergiebigen - Wanderwege soll der Cup and Saucer Trail bei M'Chigeeng sein. Der Wanderweg führt durch einen wunderschönen Laubwald auf eine bizarre, zweihundert Meter hohe Felsformation, von der man einen weiten Blick über die umliegenden Seen und Wälder hat. Im 'Indian Summer', wenn das Laub in Rot- Gelb- und Brauntönen leuchtet, ist das sicher ein wahrer Augenschmaus. Jetzt im Frühjahr leuchtet das frische Grün der Ahorn- Buchen- und Eichenblätter in mindestens ebenso vielen Schattierungen und kündet vom jährlichen Neuanfang der Natur - von länger werdenden Tagen, von wärmeren Temperaturen. Mangels Anleitung eines indianischen Führers bleibt mir die spirituelle Ebene des Trails allerdings weitgehend verborgen. Trotzdem ein ausgesprochen netter Ausflug.
Einfach nur den TCH nach Westen rumpeln ist mir viel zu öde. Daher versuche ich mich an meiner ersten Logging Road, einer Straße von und für Holzfäller. Eigentlich eine Privatstraße ist sie doch für jedermann befahrbar, der gerne Schotterstraßen oder Pisten fährt. So wie mich. Was soll ich sagen: sie ist weit besser zu fahren als so manche Teerstraße! Kaum Verkehr (drei Autos auf 400km), ab und zu ein wenig (hochfrequentes) Wellblech, kaum Schlaglöcher, wenige böse Querrillen oder gefährliche Auswaschungen.
Die Warnzeichen allerdings muss man erst als solche wahrnehmen lernen! Mal steckt ein trockener Zweig senkrecht auf der Piste (signalisiert z.B. böses Schlagloch). Mal flattert ein buntes Bändchen an einem Ast am Pistenrand (signalisiert allerlei andere Gefahren). In beiden Fällen sollte man mit dem Schlimmsten zu rechnen und erst einmal ein paar Gänge runterschalten! Mit der Aussicht von der Piste ist es - wie auch bei den meisten Highways - nicht weit her: Bäume links der Straße, Bäume rechts der Straße. Was dahinter liegt bleibt im Verborgenen. Ich hoffe sehr, dass sich das mit dem Erreichen der Tundra oben im Norden ändert! Der Blick zum Horizont ist eben durch Nichts zu ersetzen!
Nach vierhundert Kilometern entlässt mich die Schotterpiste bei Wawa wieder auf den vielbefahrenen (südlichen) TCH. Drastischer könnte die Umstellung nicht sein. Wenigstens bietet nun die Landschaft mehr Abwechslung. Kurvenreich und im steten Auf und Ab führt der TCH am Nordufer des Lake Superior entlang. Eine wahre Erholung nach den doch etwas eintönigen Abschnitten durch die östlichen Ebenen Ontarios.
Noch immer befinden wir uns mitten auf dem Canadischen Schild, der schier endlosen Gesteinsplatte, die durch die kilometerdicken Gletscher der letzten Eiszeiten flachgerubbelt wurde. Verglichen mit den Great Plains weiter im Westen (das sind die Überbleibsel des völlig ebenen Bodens eines gigantischen späteiszeitlichen Sees, genannt Lake Agassiz) ist der Canadische Schild schon fast ein Hochgebirge mit Höhen zwischen zweihundert und fünfhundert Meter über dem Meer. Die Mulden der großen Seen reichen allerdings ungefähr genauso weit unter den Meeresspiegel! Alles in Allem ein doch eher flaches Land, in dem ein hundert Meter hoher Felsabbruch schon ein echtes Spektakulum darstellt - und entsprechend beworben wird!
Der Quimet Canyon östlich von Thunder Bay ist wirklich recht beeindruckend - nach so viel vergleichsweise ebener Landschaft! Durch das wenige Sonnenlicht an seinem Grund hat sich dort eine ganz eigene Vegetationszone mit arktischen Pflanzen gebildet, wie man sie sonst nur tausend Kilometer weiter nördlich findet. Zwei schöne Aussichtsplattformen erlauben einen atemberaubenden Blick in die Tiefe, dafür sind auch zwei canadische Dollar (1,40 Euro) Eintrittsgeld vertretbar.
Ganz in der Ferne erspähe ich sogar schon mein nächstes Ziel: den Sleeping Giant, den schlafenden Riesen auf einer Halbinsel im Lake Superior. Wie um jede markante Landschaftsformation ranken sich auch um ihn tolle indianische Legenden:
Nanabosho (the Giant) was the son of Kabeyun, the west wind. He led the Ojibwe people to the North shore of Superior Lake to save them from their traditional enemies, the Sioux. One day, while sitting by the lake, Nanabosho scratched a rock and discovered silver. Frightened for his people, he made them bury the silver in the tiny islet at the end of the Sibley Peninsula and swear never to reveal its whereabouts.
To the Ojibwa, the silver was worthless, but if the white man found out about it Nanabosho knew he would take their land. The secret was out when vanity got the best of the chieftains. He made himself silver weapons and was soon after killed in a battle with the Sioux.
A few days later, Nanabosho saw a Sioux warrior canoeing across Lake Superior, leading two white men to the source of the silver. To save the secret, Nanabosho disobeyed the Great Spirit and raised a strom which sank the canoe and drowned the white men. As punishment, Nanabosho was turned to stone. Today the Giant still lies in the place where the Great Spirit struck him, majestic in repose, and his heart stilled, forever watching over his silver secret.
Please note: This is one variation of the Legend of the Sleeping Giant.
Source: 2014 Information Guide of Ontario Parks.
Der Weg zum gleichnamigen Park ist nicht weit und an einer seiner schönsten Stellen, direkt am Lake Marie Louise findet sich ein grandioser Campingplatz. Und ich einen einsamen Stellplatz. Direkt am Wasser. Einfach superb! Vergleichbar schöne Stellplätze auf meinen bisherigen Reisen kann ich an einer Hand abzählen! Es stimmt einfach alles: der Ausblick auf den See und den Riesen, das klare (kalte) Wasser, die (obligate) Feuerstelle und der (ebenso obligate) Picknicktisch, die Nachbarn weit weg und die strahlende Sonne am Himmel! Was will Mensch mehr? Ach ja, ein Dutzend Wanderwege, um dem Schlafenden noch ein Stück näher zu kommen.
Ob sich Tiere für so etwas auch begeistern können? Jedenfalls stromern ein Dutzend wilder Rehe, mindestens ebenso viele Streifenhörnchen und am letzten Tag ein junger Schwarzbär übers Campgelände. Alle schauen arg hungrig aus, kein Wunder nach dem Winter, der für die Tiere sicher noch härter war als für uns Menschen.
Dennoch sollte man unter gar keinen Umständen die Tiere irgendwie füttern - und sei es nur durch achtlos herumliegende Fressalien ... oder die längst geleerte Konservendose! Während die Streifenhörnchen noch halbwegs zu vertreiben sind, ist man bei Bären schnell mal zweiter Sieger - oder fast food. Nicht umsonst gibt's auf vielen Wildniscamps bärensichere Metallkästen zur Aufbewahrung der Vorräte. Und bärensichere Abfallcontainer (sie haben ein 'vertracktes' Schloss) sind auf jedem Parkplatz oder Camp völlig normal - ein absolutes Muss im bear-country!
Bei schönstem Wanderwetter erkunde ich an den folgenden Tagen die Umgebung des Sees und eine längere Tour führt mich auf den schlafenden Riesen hinauf. Ich hoffe, ich habe ihn nicht geweckt! Jeden der fast zwei Dutzend Wanderwege des Parks - darunter mehrere Mehrtagestouren - kann ich allerdings nicht unter die Sohlen nehmen.
Nach so viel Natur ist wieder Platz für etwas Kultur. Respektive Geschichte. Fort William steht auf dem Reiseplan, ein paar Kilometer südwestlich von Thunder Bay gelegen. Auch hier gibt's ein 'lebendiges Museum', nach Meinung Vieler das Beste in ganz Canada.
Fort William war im 18. und 19. Jahrhundert der wichtigste Handelsknoten der NWC, die mit allem handelte, was sich irgendwie per Boot, Pferd oder Muli bewegen ließ. Normalerweise lebten hier nur so um die dreißig Menschen (Verwalter, Arzt, Apotheker und ein bis zwei Bauern). Im Frühsommer aber erwachte das Fort zu geschäftigem Leben: dann trafen sich hier bis zu zweitausend Menschen: Indianer kamen aus dem ganzen Nordwesten und feilschten mit Händlern, die aus Montreal hergepaddelt waren. Beide hatten nur eines im Sinn: einträgliche Geschäfte machen.
Die Indianer brachten Tausende von Fellen, die sie den Winter über erbeutet hatten. Vor allem Fuchs, Biber, Kojote, Hermelin, Bär und Rentier waren im Angebot. Die Felle tauschten die Indianer gegen Gegenstände, die sie selbst nicht herstellen konnten. Wie Fallen, Töpfe oder andere Utensilien aus Eisen (das sie nicht bearbeiten konnten). Wie Luxusgüter (Tabak, Tee, sogar Stoffe aus China). Wie Musketen, Munition ... oder auch Rum.
All diese 'nützlichen' Güter hatten sogenannte Voyageure in ihren Kanus aus Montreal (dem 'Verteilzentrum' der NWC) hierher geschafft! Eisenbahn oder Straßen gab's damals noch lange nicht und größere Schiffe konnten nicht so weit ins Landesinnere segeln. Die Lastkanus der Voyageure waren natürlich weit größer als heutige Freizeitboote. Die Arbeitskanus waren bis zu zwölf Metern lang und mit zehn bis zwölf Männern besetzt. Die paddelten zwölf bis vierzehn Stunden pro Tag, sechs bis sieben Wochen lang! Dazwischen 36 Portages, wo die Kanus entladen, über Land getragen und wieder beladen werden mussten. Ein Job für echte Abenteurer! Aber gut bezahlt!
Nach dem 'Rendezvous' im Fort, nach dem großen Feilschen, das durchaus vier bis sechs Wochen dauern konnte, kehrte Ruhe im Fort ein. Alle gingen wieder ihres Wegs: die Indianer kehrten zurück in ihre Wigwams in den Weiten des Nordens. Und die Pelzhändler packten Tausende frischer Felle in ihre Kanus und paddelten heim nach Montreal, wo die Pelze auf größere Schiffe verladen und nach Europa gebracht wurden. Kein Wunder, das sich dort nur die ganz Reichen einen Pelzbesatz ihrer Hüte oder Umhänge leisten konnten! Canada war in jenen Jahren ausschließlich als Lieferant hochwertiger Pelze gefragt!
Die jährlichen 'Rendezvous', ja das gesamte Zusammenleben der ersten Europäer und der First Nations sollen sehr friedlich abgelaufen sein, um nicht zu sagen "freundschaftlich". Im Grunde war es (anfangs) eine 'Win-Win-Situation' von der beide Seiten profitierten. Es entwickelten sich zahlreiche Freundschaften - und Ehen - zwischen Weißen und Indianern. Die Kinder dieser Mischehen bildete sogar ein eigene Ethnie, die Métis (die bis heute politischen Einfluss hat). Das - weitgehend - friedliche Miteinander änderte sich allerdings schlagartig mit dem Eingreifen der Briten und der Zuwanderung großer Mengen weißer Siedler.
Die NWC hatte in den Anfangsjahren einen mächtigen Rivalen, die HBC. Von der britischen Krone war denen das Handelsmonopol an der Hudson Bay und ihres gesamten Einzugsgebiets übertragen worden. Nicht zuletzt auf Grund des Auftretens vieler HBC-Händler gegenüber den Indianern hielten diese überwiegend zur französisch geprägten und indianerfreundlichen NWC. Die NWC wollte handeln und nicht kolonialisieren! Die Rivalitäten verschärften sich, aus einzelnen Scharmützeln wurde ein regelrechter Handelskrieg, der beide Seiten erheblich schwächte. 1821 wurde die NWC dann auf Druck der britischen Krone 'unfreundlich übernommen' (wie das heute wohl heißt) und die HBC hatte ihr Pelzhandelsmonopol mit einem Schlag auf den gesamten Norden Canadas ausgedehnt. Knapp fünfzig Jahre später (1869) muss die HBC allerdings ihr gesamtes Territorium (das sich inzwischen von Neufundland über die Rocky Mountains bis zum Pazifik erstreckte) für 300.000 Pfund - einen Pappenstiel - an die neu gegründete Dominion of Canada - die Keimzelle des heutigen canadischen Staates - verkaufen. "Wie gewonnen, so zerronnen" könnte man sagen!
Vieles dieser interessanten Geschichte wird im heutigen Fort William hautnah vermittelt. Durch die Vorführungen kann man sich ein prima Bild machen, wie die Menschen damals so lebten. Wie die Indianer aus Birkenrinde ihre Wigwams bauten. Wie der Apotheker einen kranken Zahn zog (Auaaaaah). Wie die riesigen Lastkanus - ebenfalls aus Birkenrinde - gebaut wurden. Wie sie zu paddeln waren. Welche Lasten die Voyageure zu stemmen hatten. Wie luxuriös die hohen Herren wohnten und tafelten. Wie damals ein Kühlschrank funktionierte. Wirklich interessant und aufschlussreich! Der Tag vergeht wie im Flug.
Wenige Kilometer weiter westlich gibt's - wie zur Belohnung - gleich wieder etwas Natur zu bestaunen: die Kakabeka Falls, ein prächtiger Wasserfall, der aber mit den Niagarafällen kaum mithalten kann, mit denen er oft verglichen wird. Das müde Rinnsal, als das er in manchem Führer beschrieben wird, übertrifft er - zumindest jetzt im Frühjahr - um Längen!
Ihr seht, bei so viel Interessanten, Neuen und Schönen kann schon mal so etwas wie Urlaubsstimmung aufkommen. Was nicht immer ein gutes Zeichen ist. Denn so kann's nicht für alle Zeiten weitergehen ... So oder so ähnlich muss das Schicksal wohl überlegt haben ...
Kurz hinter Thunder Bay teilt sich der TCH und ich entscheide mich für die südlichere Route. Dieser Highway #11 soll nahe Fort Frances eine landschaftlich ausgesprochen schöne Gegend durchqueren. Vorher aber will mir das Schicksal offenbar noch einen kleinen Denkzettel verpassen!
Die Kilometertaferln entlang des Highways weisen mit einem Schlag 15xx Kilometer aus, Tendenz steigend. "Woher werden die wohl gezählt werden? Von Toronto? " frage ich mich im Stillen und finde keine Antwort. Als ich eine Planierraupe am Straßenrand sehe, fahre ich kurz rechts ran, um den Fahrer zu fragen, ob er vielleicht die Antwort weiß. Er weiß sie auch nicht! Und ich bin zu weit rechts ran gefahren! Nur ein klein wenig zu weit! Ich merke es schon beim Anhalten, kann die Lady aber nicht mehr auf festen Boden lenken: sie rutscht einfach weg - und bleibt in brenzliger Schräglage stehen.
"Man, you are in trouble, in deep trouble!" meint der Fahrer der Planierraupe mit einem angstvollen Blick auf die Lady. So unrecht hat er wohl nicht, dabei steht die Lady Grey doch noch auf allen Vieren! Noch! Der Grund unter den rechten Rädern ist unglaublich locker, nur loser, weggeschobener Splitt. Jeden Moment kann sie weiter abrutschen, dann schlägt die Lady einen Purzelbaum. Nicht vor Freude allerdings!
"Ruhig Blut! Du stehst nicht das erste Mal im Graben!" Flugs ist der Bergegurt rausgekramt und festgemacht. Das andere Ende an die Planierraupe. Dem Fahrer stehen mehr Schweißperlen auf der Stirn als mir selber, als er die Lady Grey zentimeterweise aus der misslichen Schräglage auf festen Boden zieht. Er gibt mir noch ein paar gut gemeinte Tipps, bevor er sich verabschiedet und die Wunden, die die Lady auf 'seiner' Straße gerissen hat wieder auffüllt.
Uff, das hätte schief gehen können! Richtig schief! Ob ich da wohl allein mit Sperren und Allrad wieder rausgekommen wäre? Ich hatte es ja kurz probiert, aber Angst, dass die Lady noch weiter wegsackt und mich dann für die sichere Alternative mit der Raupe entschieden. "Du machst aber auch Sachen! Das nächste Mal passt Du gefälligst besser auf!!!" sage ich mir immer wieder vor, als auf den nächsten Kilometern der Adrenalinspiegel langsam wieder Normalpegel erreicht. Da gibt's plötzlich einen gewaltigen, dumpfen Schlag. Irgendetwas sehe ich im Unterbewusstsein auf mich zurasen. Offenbar ein Stein. Ein großer Stein! Nun klafft in der Windschutzscheibe ein Krater! Groß wie ein Weinglas, nur nicht so schön geschliffen!
Gott sei Dank hat der Stein nicht die ganze Scheibe durchschlagen. Die Innenseite der Verbundscheibe ist heile, aber von der äußeren gibt's nur noch Krümel! Mit Steinschlag hatte ich wohl gerechnet. Aber oben im Norden, auf den Schotterpisten, wo die großen Trucks langdonnern! Doch nicht hier im Süden, noch dazu auf einer so guten Teerstraße! Da muss wirklich das Schicksal seine Finger im Spiel haben!
"Wo bekomme ich jetzt eine neue Windschutzscheibe her?" Dass das Loch nicht zu reparieren ist, ist mir sofort klar, zumal es direkt im Sichtfeld liegt. Eine neue Scheibe gibt's auch nicht von heute auf morgen, also erst einmal Schadensbegrenzung!
Die Landschaft vor Fort Frances ist wirklich atemberaubend schön. Doch ich habe gar kein Auge dafür, meine Gedanken drehen sich einzig um die kaputte Scheibe und die Reparatur. Tatsächlich findet sich in Fort Frances ein netter Autoglaser, der mit seinem Spezialharz die Krümel fixiert und das Loch so gut wie möglich abdichtet. Zumindest kann mal kein Schmutz mehr eindringen!
"Das ist nicht mein Tag! Erst die Zahnbürste, das Honigbrot, der Ausrutscher in den Graben - und nun das noch! Heute hast du nur Dreck in den Fingern! - Es reicht!" grummle ich in mich hinein und will schon mit dem Schicksal hadern. Was aber hilft das? Nix! Auch solche Tage gibt's im Leben - und auf Reisen. Da hilft kein Jammern und kein Weinen!
Also den nächstgelegenen Campground ansteuern und den Tag in sicherer Umgebung zu Ende bringen! So lande ich in Sioux Narrows (gesprochen: [zu-nærrous]) am malerischen Lake of the Woods, wo ich ohne weitere Blessuren meinen Standplatz beziehen und den vermaledeiten Tag zu einem guten Ende bringen kann.
Und schon geht's wieder aufwärts! Die junge Platzchefin - eine bildhübsche Frau mit indianischen Wurzeln - lässt meine Wut (worauf eigentlich?) mit einem netten Lachen und lustigen Kommentaren wie eine Seifenblase platzen. Die Welt ist wieder in Ordnung. Auch die Frontscheibe werden wir irgendwann reparieren! (Dass es noch bis Mexiko dauern wird, bis ich eine neue bekomme, ist mir allerdings noch nicht ganz klar!)
Es gibt schlimmeres!