Ruunaa (Finnland) (GPS: 63°22,680'N; 030°20,764'E)
Langsam reißen die Wolken auf. Erste Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die pechschwarzen Wolkentürme. Für lange regnet es hier oben nicht. Kurz und heftig. Heute Nacht reißt mich ein Schauer aus dem Schlaf: die dicken Tropfen trommeln auf das Dach. Und heute Morgen, pünktlich zum Frühstück: zweimal Donnergrollen, ein kurzer, heftiger Sturzregen, sodass man das andere Ufer des Sees nicht mehr sieht.
Doch nun scheint alles vorbei. Selbst die Paddler neben mir atmen auf und fangen an, Ihre Sachen zu packen. Sie wollen zurück nach Helsinki. Dann habe ich den riesigen Campground direkt am Ruunaanjärvi wieder für mich allein. Trotz Hochsommer, trotz Hauptreisezeit in Finnland. Nun ja, es gibt genug Platz hier oben, die Ufer der Seen sind endlos. Man könnte fast sagen, statistisch gesehen steht jedem Finnen sein eigener See zu. So sieht man an jedem Gewässer mindestens eines der Mökkis, der kleinen (oder auch größeren) hölzernen Wochenendhäuschen der Finnen. Jedes mit eigener Sauna und eigenem Bootssteg. Manchmal beneide ich die Finnen um diese Natur, diese Weite, diese Offenheit der Landschaft. Auf der anderen Seite haben sie fast ein halbes Jahr Winter, Schnee und Dunkelheit. Nein, da würde ich doch lieber nicht tauschen wollen!!!
Ist das wirklich Zufall? Gerade krame ich die Aufzeichnungen meiner letzten großen Reise heraus. Die hatte mich auch hierher an die Grenze zu Russland geführt. Vor inzwischen siebzehn Jahren! So lange ist das schon wieder her? Auf den Tag genau, Anfang Juli 1996 stand ich auf genau dem gleichen Grillplatz und habe Tagebuch geschrieben. (Heute heißt so etwas ja 'Blog' und ist hochmodern.) Der See ist noch immer der gleiche, die kerzengeraden Nordlandfichten sind ein paar Meter gewachsen ... und auf der Schotterstraße, die zu den Stromschnellen führt, herrscht reger Verkehr. Ist ein richtiges Wildwasserdorado geworden, man sagt, es gäbe nirgends so viel Wildwasser wie hier oben.
Immerhin recken sich die 'Berge' ringsum über zweihundert Meter in den Himmel. Der Gipfel des Halti, der höchsten Erhebung Finnlands liegt zwar 1328m über dem Meer, aber der liegt weit weg, am anderen Ende von Finnland, an der bergigen Grenze zu Norwegen. Ansonsten ist Finnland allenfalls als 'hügelig' zu bezeichnen. Kein Wunder, hat die letzte Eiszeit vor 12.000 Jahren doch alles abgeschliffen und nur sanfte Höhen und endlose Seen übriggelassen.
Wenigstens ist Finnland nicht ganz so potteben wie die Länder, durch die ich heraufgekommen bin. Auch Nordpolen, Littauen, Lettland und Estland haben Ihr Entstehen der besagten Eiszeit zu verdanken, aber dort hat sie nur flaches, eintöniges Schwemmland zurückgelassen: Die höchste Erhebung dort erreicht gerade mal 318m, meist aber kurve ich mehr oder weniger auf Meereshöhe herum. Da waren die ersten Felsen und Hügel bei Helsinki schon eine enorme Abwechslung!
Überhaupt konnte ich diesen Ländern nicht allzu viel abgewinnen. Trotzdem möchte ich die Anreise durchs Baltikum nicht missen! Lag es nur an der etwas monotonen Landschaft? Oder an den zum Teil sehr schlechten Straßen? Oder an den verwahrlosten Ruinen der Industrie- und Landwirtschaftkombinate aus vergangenen Sowjet-Tagen, bei denen sich keiner die Mühe macht, sie wegzuräumen? Die aber auch das schönste Stadtbild arg verschandeln.
Ok, ok, die Städte waren ja ganz in Ordnung! Tallin, die Hauptstadt Estlands wäre sogar allein die Reise wert gewesen. Sie war tatsächlich der krönende Abschluss der 'Baltikum-Etappe'. Aber lasst mich von vorn beginnen ...
Wir schreiben noch den 21. Juni, nach einem kurzen nächtlichen Gewitter hat sich die Hitze der letzten Tage ein wenig gelegt und es herrscht ideales Erkundungswetter für die Hauptstadt der Republik: Berlin.
Die neue Hauptstadt [DEU] Die neue Hauptstadt
Um einen ersten Überblick zu bekommen, gönne ich mir eine Stadtrundfahrt mit dem Doppeldeckerbus, der aus Berlin genauso wenig wegzudenken ist wie das Brandenburger Tor. Anschließend dann die Highlights auf Schusters Rappen. Toll, dass die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in sogenannter 'fußläufiger' Entfernung liegen. Ob das Angie, Ihre Minister und Adjutanten auch wissen - die fahren ja jeden Schritt mit der gepanzerten Dienstkarosse.? Ist aber wirklich beeindruckend, was sich hier seit dem Fall der Mauer getan hat: 1978 war ich das letzte Mal hier gewesen: damals war sie natürlich die Hauptattraktion gewesen. Die Stadt war zerrissen, die eine Hälfte tabu, die andere Hälfte eingekesselt. Mit einer tiefen Beklemmung denke ich diesen Besuch zurück. Heute ist Berlin eine wirklich imposante Stadt, nicht nur groß, sondern auch vielfältig, lebhaft und immer am Ticken. Dann all die Gebäude, die ich bislang allenfalls aus der Glotze kannte: das Kanzleramt, das Paul-Lobe-Haus und last not least das Reichstagsgebäude. Mal abgesehen von der Arbeit, die da drin geleistet wird (da mögen die Meinungen etwas auseinander gehen ), die Gebäude selbst sind schon Highlights einer an Highlights nicht gerade armen Stadt!
Was mich persönlich sehr beeindruckt hat, ist die Verschmelzung von alt und neu: die moderne, fast schon futuristische Glaskuppel auf dem alten Gemäuer des Reichstags; das kubische Kanzleramtsgebäude neben dem im Stil der 60-er geschwungenen Haus der Kulturen. Alles eingebettet zwischen großen Grünanlagen, offenen Plätzen und baumbestandenen Chausseen. Wenn ihr mich fragt: Berlin ist schon eine Reise wert! Vielleicht auch mal länger als die veranschlagten zwei Tage!
Der Sonntag bringt dann zwei Einblicke in die Hauptstadt, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten: morgens Besichtigung der Glaskuppel über dem Allerheiligsten der Republik (man muss sich vorher anmelden, wird beim Eingang gefilzt wie am Airport und darf sich bis zur Glaskuppel nur in beaufsichtigten Gruppen bewegen. Alles hübsch reglementiert. Der Ausdruck 'deutsch' liegt mir dazu auf der Zunge.
Nachmittags - nach der Erkundung der Highlights, die ich gestern nicht geschafft hatte - dann die Parade zum CSD, zum Christopher Street Day, der Hauptkundgebung der Schwulen und Lesben. Die in der Hauptstadt natürlich noch politischer gefärbt ist, als anderswo! Hier zeigt sich, wie offen, ungezwungen und frei 'der Deutsche' auch sein kann!
Da lasse ich einfach die Bilder der kleinen Fotostrecke rechts für sich sprechen...
Genug von Deutschland. Ihr wollt vermutlich nicht hören, wie es 'zu Hause' so ist, sondern im Rest der Welt!
Noch ein paar Besorgungen am Montagmorgen, dann bringt mich die Autobahn schnell nach Norden. Über die Oder, Richtung Szczecin (Stettin). Noch sind die Straßen gut. Wie häufig in den nächsten Tagen prangt am Straßenrand alle paar Kilometer die bekannte blaue Flagge mit den Brüsseler Sternen. Fehlt dieses Zeichen heißt's langsam fahren, auf Wellen in der Fahrbahn achten, auf Schlaglöcher und ja nicht schneller als 50km/h. Dann sind die Straßen noch im landestypischen Originalzustand!
Dass die neuen und besseren Straßen einerseits von der EU finanziert werden und andererseits die Polen dafür Maut verlangen, finde ich schon heftig! Knappe vierzig Euro schlagen dafür zu Buche - und manchmal piepst die Tollbox sogar bei den alten Rüttelstraßen! Und die Abfertigung an der deutsch-polnischen Grenze ist durch sowas von Freundlichkeit geprägt ...
Und woran erkennt man in Polen, dass man in einer Stadt ist? Da sind die Straßen komplett den Schlaglöchern gewichen! Teilweise so tief, dass ein halber PKW-Reifen reinpasst. Mehr als einmal muss ich hart in die Eisen steigen, um die Achsen der armen Lady Grey nicht schon jetzt zu zerlegen. Andererseits lerne ich die gute Federung des MAN zu schätzen - diese Strecke mit dem alten Unimog wäre eine echte Tortur geworden!
Das anfangs gute Wetter ist inzwischen einem leichten, aber hartnäckigen Nieselregen gewichen. So mache ich flugs einen großen Bogen rund um Gdansk: (a) zur Schonung der Achsen, (b) zur Schonung des Geldbeutels, (c) zur Schonung der Kamera und (d) weil ich eh kein Freund von Städten bin!
Erste Eindrücke des Baltikums: Litauen [LTU] Erste Eindrücke des Baltikums: Litauen
Hinter Gdansk ist ein riesiger Schlenker angesagt - den Genossen Stalin und Putin sei Dank! Obwohl mein Ziel gerade mal hundertfünfzig Kilometer entfernt liegt, muss ich ca. fünfhundert Kilometer Umweg fahren, rund um die russische Exklave Kaliningrad. Also auf polnischer Seite dreihundert Kilometer auf ortsüblichen Nebenstraßen nach Osten rumpeln, bei Szyplinski über die Grenze nach Littauen und von Kaunas wieder zweihundert Kilometer nach Westen - diesmal allerdings auf prächtiger, menschenleerer Autobahn. Ziel ist Klaipeda und damit der Einstieg zum Nationalpark Kuhrische Nehrung: eine breite Sandbank, die das Binnenmeer des Kurischen Haffs von der offenen Ostsee trennt.
Was die Polen können, das können die Litauer schon lange: mit knapp fünfzig Euro schlagen die zehn Minuten Fahrt auf der Fähre zur Halbinsel zu Buche, mit etwas über zwanzig Euro dann der Eintritt in den Sandbank-Nationalpark selbst! Ein teures Vergnügen! So recht genießen kann man den Nationalpark dann aber auch nicht, denn viel zu sehr muss sich der Fahrer darauf konzentrieren, auf der holprigen Straße zu bleiben und wenigstens den gröbsten Wellen auszuweichen.
Erholung ist erst in Nida angesagt, dem südlichsten Ort auf der Halbinsel und keine fünf Kilometer von der Grenze zu Russland (Kaliningrad) entfernt. Der dortige Camp ist erschwinglich und sauber, das einzige Gesprächsthema der übrigen Urlauber sind die Straßen - und manch einer wirft besorgte Blicke unter sein Gefährt!
Nida selbst ist ein nettes, ehemaliges Fischerdorf, schon zu kommunistischen Zeiten mit 'Erholungsgebäuden' verziert, aber mittlerweile recht hübsch restauriert. Viele Künstler leben hier, man kann gut und billig Essen gehen, die Kalorien bei Wanderungen durch den Nationalpark wieder loswerden - oder die höchste Düne der Nehrung besteigen, immerhin sechzig Meter über der Ostsee. "Willkommen in der litauischen Sahara" steht auf großen Plakaten, der Blick auf die zwei Sanddünen lässt mich allerdings eher sehnsüchtig an die wirkliche Sahara zurückdenken. Richtig ansprechend finde ich hingegen die kleine und hochmoderne Kirche des Orts.
Die Nehrung selber, die Halbinsel aus Sand, beziehungsweise das Haff, die Lagune, die sich in ihrem Schutz gebildet hat, bilden zwar auf der Landkarte einen ulkigen Auswuchs der Natur, ist in Wahrheit aber doch nur die Ansammlung zahlreicher Sandkörner, die der Wind hierher verfrachtet hat. Nida musste übrigens schon zweimal verlegt werden als die Sandmassen die alten Gebäude überwandert hatten.
Menschen, die Strandwanderungen lieben, sind hier durchaus in ihrem Metier: fünfzig Kilometer Sandstrand am Stück: das findet man nicht allenthalben. Aber Vorsicht: die Strände sind hübsch ordentlich eingeteilt: Gemischter Strand - Nur-Frauen-Strand - Nacktbadestrand. Was, wo, wie? An Schildern herrscht in Litauen kein Mangel! War ja früher lange Jahre ein Teil Preußens!
Auch hübsche Sonnenuntergänge soll's hier fast jeden Tag geben. Schade, bei mir ist sie 'einfach so' ins Meer geplumpst. Allerdings geht sie jetzt im Juni erst gegen 9:30h unter und um 4:30h schon wieder auf: wir befinden uns auf der geografischen Höhe von Dänemark - und die kürzeste Nacht des Jahres liegt erst fünf Tage zurück!
Die Stadt Klaipeda selber ist wenig sehenswert, schon seit Sowjetzeiten ein großer Hafen, heute mit Fährverbindungen nach Sassnitz, Dänemark und Schweden. Noch ein paar Kilometer gen Norden, dann ist Lettland erreicht. Auch hier kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Straßen mit jedem Land besser werden, das ich nach Norden komme. Sind sie in Litauen schon deutlich besser als in Polen, so werden sie in Lettland noch ein gutes Stück besser! Und Estland ist dann eh schon Vorposten von Finnland mit seinen tollen, gut ausgebauten Straßen! Da braucht's dann nicht mal mehr das Fähnchen der EU!
Historisches Pflaster: Riga [LVA] Historisches Pflaster: Riga
Aber noch sind wir in Riga. Auch von den Verbotszeichen für LKW lasse ich mich nicht schrecken und rolle schnurstracks mitten in die Altstadt. Einfach der Wegweisung nach Tallin folgen, über die riesige Brücke, die die Daugava überspannt, dann gleich rechts: schon gibt es einen großen freien Parkplatz, keine hundert Meter von der historischen Altstadt entfernt. Glück gehabt! Das winzige Parkverbotstaferl hab' ich völlig übersehen...
Riga, Tallin, Danzig, Memel (Klaipeda) können alle auch mit einer langen deutschen Vergangenheit aufwarten. Teilweise über drei Jahrhunderte waren die Handelsleute und Ritter des Livländer Ordens hier tonangebend. Der Bischof von Riga war oberster Handels- und Feldherr und verbreitete den 'rechten' Glauben mit harter Hand. Erst die russischen Zaren und die erstarkten Schweden konnten dem Treiben des Ordens später Einhalt gebieten.
Danach startet eine wechselvolle Geschichte aller drei Länder im Spannungsfeld zwischen Deutschland/Preußen, Russland, Schweden und Dänemark. Ihre strategische Lage an den lukrativsten Handelswegen der damaligen Zeit - nach Russland und in den Norden - ließ sie zum Zankapfel zwischen den Staaten werden. Gelitten hat darunter in erster Linie wieder einmal die Landbevölkerung, die Städte wuchsen und wuchsen. Die Wunden, die Stalinismus und Kommunismus in allen drei Ländern geschlagen hatten, wurden nach der 'Entlassung' aus dem Sowjetreich unter Boris Jelzin schnell geschlossen.
Heute erleben die Städte einen Aufschwung sondergleichen, nicht zuletzt durch den stark wachsenden Tourismus. Es gibt tatsächlich viel zu sehen und die Fremdenführer haben alle Hände voll zu tun, die Touristenmassen durch die engen Gassen zu schleusen.
In Riga begnügte ich mich -
ob des kleinen Parkverbotstaferls - mit einer halben Stunde Stadtrundgang, in
Tallin
gönnte ich mir dann immerhin schon drei Stunden!
Doch bis dahin sind's noch etwas über dreihundert interessante Kilometer. Die Sommerresidenz des mächtigen Bischofs von Riga liegt fünfzig Kilometer östlich, in Turaida mit einem hübschen Blick über den sehenswerten Gauja-Nationalpark. Direkt gegenüber, am anderen Flussufer, in Sigulda hatten sich im 13./14.Jahrhundert die deutschen Schwertritter niedergelassen, die dem Bischof spinnefeind waren. Damals war Sigulda eine schwer befestigte Frontstadt, heute ist sie eine beschauliche Stadt mit netten Cafés und vielen Ausflugsmöglichkeiten.
Die alte Bischofsburg ist allerdings viel aufregender! Im Anschluss an die Besichtigung kann man durch den weitläufigen Park schlendern, in dem neben dem Grab der Rose von Turaida (eine rührende Liebesgeschichte rankt sich um die junge Frau) auch zahlreiche Skulpturen moderner Künstler locken. Daneben Häuser und Scheunen eines alten deutschen Landguts, alles hübsch hergerichtet, um einen Einblick in das Leben der damaligen Zeit zu gewinnen. Der Eintritt zum Park - in dem es viel zu erkunden gibt - ist mit drei Euro echt kulant, der Eintritt zum Parkplatz mit fünf Euro weniger!
Dritter im baltischen Bunde: Estland [EST] Dritter im baltischen Bunde: Estland
Zurück an der Küste geht's weiter gen Norden, zum ersten Mal auf der Via Baltica, der schnellsten und inzwischen prima ausgebauten Verbindungsroute quer durchs Baltikum. Bis zur Fähre nach Finnland habe ich noch ein paar Tage Zeit, also bei Pärnu schnell wieder abzweigen, gen Westen, nahe an der Küste entlang! Der Matsalu Nationalpark ist ein bekannter Zwischenstopp für Tausende von Zugvögeln. Im September und Oktober muss es hier nur so wimmeln von großem und kleinem Federvieh, doch im Moment sehe ich nichts als ebenes, mit Wollgras bestandenes Sumpfland. Trotzdem ein netter Platz zum Schlafen!
Der nächste Nachplatz soll dann noch idyllischer werden: direkt vor den Toren Tallins wurden an der zum Baden einladenden Küste Lohusalu Laht zahlreiche Picknickplätze angelegt. Die lasse ich mir natürlich nicht entgehen, bevor am nächsten Morgen die Einfahrt in die Hauptstadt Estlands, die Suche nach dem richtigen Fährhafen und eine ausgiebige Stadtbesichtigung ansteht.
Tallin ist wirklich eine sehenswerte Stadt. Das haben auch schon Hunderttausende andere Touristen rausgefunden: Im Hafen liegt ein blendend weißes Kreuzfahrtschiff und seine Passagiere werden mit Dutzenden von Bussen in die Stadt gekarrt. Dabei sind es doch nur ein paar Schritte vom Hafen (Terminal 'A') zur historischen, mittelalterlichen Stadt! Alles gut zu Fuß zu erkunden! Aber die Gefahr, dass die Passagiere ihr Schiff nicht wiederfinden, das die Häuser der Stadt um viele Stockwerke überragt, ist natürlich schon groß!
Auf der Bischofsburg in Turaida hatte ein höchst einprägsames Schaubild den Aufbau der Gesellschaft im Mittelalter erläutert:
- unten das Fußvolk, die Bauern, Handwerker und einfachen Leute,
- in der Mitte der Adel, reiche Handelsleute und die Ritter,
- ganz oben der Klerus mit dem Bischof an seiner Spitze.
Just nach diesem Strickmuster ist auch die gesamte Altstadt von Tallin aufgebaut. Wie ein getreues Abbild der Gesellschaft aus Stein! Dabei ist jede Etage von der anderen durch eine dicke, wehrhafte Mauer getrennt! Ganz oben auf dem Hügel thronen 'natürlich' die Kirchenleute mit einer hübschen Basilika, mit weitem Blick auf die Landschaft rundum. Und mit Blick auf ihre Untertanen, abgeschottet durch eine solide, dicke Stadtmauer, wie sie jeder 'richtigen' Stadt zum Ruhme gereichen würde. Eine Etage tiefer dann die Häuser der Adeligen, der Handelsleute und Ritter, die in der Stadt wohl hohen Einfluss hatten, aber eben doch eine 'Kaste' für sich waren. Die umgaben sich ihrerseits wieder mit einer dicken, wehrhaften Mauer, um vor den Angriffen der 'einfachen Leute' (die ja deutlich in der Überzahl waren, aber keinerlei Waffen besaßen) gewappnet zu sein. So kommt's, dass im Stadtbild von Tallin heute zwei durchgängige Stadtmauern zu besichtigen sind.
Die ideale Kulisse für eine Stadt also, die sich für die lieben Touristen ganz dem Mittelalter verschrieben hat. An jeder Straßenecke findet sich ein Burgfräulein oder ein Mundschenk in historischer Tracht, die zum süffigen Trank in die nahe Schänke laden. Auch wenn manches davon dem Tourismus geschuldet ist, macht Tallin doch einen recht anmutigen, beschaulichen Eindruck. Man fühlt sich wirklich sechshundert Jahre zurückversetzt und wartet nur darauf, wann die nächste Caravelle mit wertvoller Seide aus Hinterindien oder mit schwarzem Pfeffer von den Molukken im Hafen einläuft.
Eine beeindruckende Stadt, die ich Euch für den nächsten Urlaub wirklich ans Herz lege!
Ein wenig getrübt wird die Freude eine Stunde später, als ich auf die Fähre nach Helsinki rollen will, für die ich schon vor Wochen reserviert hatte. "Leider nicht möglich, Sie haben falsch gebucht" erklärt mir die junge Frau am Check-In in radebrechendem Englisch. Es folgt eine lange Diskussion über die zulässige Höhe, Länge, Gewicht und Kategorie eines Wohnmobils, die auf der Buchungsseite nirgends zu ersehen sind. Kurz und schlecht: nur gegen Aufzahlung von einhundertzwanzig (!) Euro kann sie mich an Bord lassen: eine satte Verdopplung des Fahrpreises! Allerdings habe ich wenig Alternativen und auch das Gespräch mit Ihrer Chefin bringt keine Besserung! Also knurrend die Kreditkarte zücken und schmollend an Bord rollen!
Quer durch die finnische Seenplatte [FIN] Quer durch die finnische Seenplatte
Die Überfahrt selbst ist völlig problemlos, in den frühen Abendstunden rollen wir in Helsinki von Bord und ich suche mir meinen ersten Nachtplatz am Stadtrand.
Nach einem leckeren Frühstück sieht die Welt dann auch gleich wieder viel schöner aus! Trotz finsterer Wolken, die uns gestern Abend in Finnland begrüßt hatten, lacht nun die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Vor Jahren hatte ich in Helsinki auf mein Russland-Visum warten müssen und die Stadt schon ausgiebig erkundet. Daher rolle ich direkt weiter gen Nordosten, Richtung russischer Grenze, folge ausnahmslos den grünen Linien auf der Landkarte, die landschaftlich reizvolle Strecken markieren. Die gibt's hier gleich im Dutzend und weit mehr als ich in einem Urlaub schaffen kann.
Die Straße schlängelt sich den ganzen Weg zwischen Tausenden von Seen hindurch,
springt von Inseln zu Halbinseln und zurück aufs 'Festland'. Nur um es gleich wieder
zu einem anderen See hin zu verlassen.
Das Fahren hier ist ein wahrer Traum. Alle paar Kilometer halte ich an und kann mich nicht sattsehen
an dieser grandiosen Landschaft. So geht es den ganzen Weg herauf in den Osten des Landes, hierher nach
Ruunaa,
das ich schon von der letzten großen Tour kenne.
Doch ich kann mich nicht erinnern, dass es soooo schön war. Oder hat sich etwa mein Blick in den Jahren verändert? Jedenfalls werde ich noch ein paar Tage hierbleiben, Boot fahren, Schwimmen gehen und das herrliche Wetter genießen.
Wenn nicht gerade ein Sommergewitter niederprasselt.
Oder ich einen neuen Tagebucheintrag tippen muss....