Látrabjarg (Island) (GPS: 65°30,759'N; 024°29,529'W)
Das Ende der Welt ist's nicht, aber das Ende Europas. Dort hinten, gleich hinterm Horizont liegt Grönland ... und ein bisschen weiter dann Kanada! Westlicher geht's nicht! Nicht hier in Island. Und nirgendwo in Europa! (Lässt man die Azoren mal außen vor.)
Doch lasst mich präzise sein: Island liegt genau auf dem mittelatlantischen Rücken, dort wo zwei tektonische Platten, die amerikanische und die eurasische langsam auseinanderdriften. Immerhin mit acht bis achtzehn Millimeter pro Jahr! Und da liegt der Látrabjarg, der Berg mit den Tausenden Papageientauchern, schon auf der amerikanischen Platte ... Ihr könnt jetzt darüber spekulieren, ob der Látrabjarg nun wirklich noch zu Europa zählt...
Philosophie beiseite: Der Látrabjarg, hier am äußersten Punkt der Westfjorde Islands fasziniert nicht nur mit seiner vierhundert Meter hohen Bilderbuchklippe, an der Tausende von schreienden Möwen und possierlichen Papageientaucher nisten, sondern auch mit einem idyllischen und ruhigen Camp. Und mit strahlend weißem Sandstrand! (Die restlichen Sandstrände Islands sind tiefschwarz vom Vulkangestein!) Samstag ist's auch, also Zeit, mal wieder Tagebuch zu schreiben und die Eindrücke zu ordnen!
Gerade mal zehn Tage bin ich auf der Insel aus Feuer und Eis. Und die Eindrücke sind so zahlreich, so vielfältig, dass ich Sie gar nicht recht zusammenfassen kann. Was am meisten beeindruckt ist die Landschaft. Klar, deshalb bin ich ja hier! Aber es ist auch die Vielfalt der Landschaft, die stete Abwechslung: mal geht es zwanzig Kilometer durch ein trostloses Lavafeld, dann grüßen schon wieder sattgrüne Wiesen und Felder. Einsame Farmen ducken sich unter mächtigen Bergrücken, glitzernde Gletscher kalben direkt neben der Straße, schwarze Sandstrände schmiegen sich zwischen tief eingeschnittene Fjorde. Wasserfälle jeder Größe, bizarre Felsformationen - und über allem ein strahlend blauer Himmel!
Blauer Himmel über Island [ISL] Blauer Himmel über Island
Ja, ihr habt richtig gelesen: blauer Himmel. Nicht gerade das, wofür Island berühmt ist! Aber bis auf zwei kurze Regenschauer und zwei Tage mit etwas bewölktem Himmel kann ich wettertechnisch nicht klagen! Blauer Himmel, Sonnenschein tagein, tagaus. Was nun in keinem Reiseführer irgendwie erwähnt ist!
Welch ein Unterschied zur Anreise. Da haben wir über weite Strecken gar nichts gesehen. Nicht mal die Hand vor den Augen. Geschweige denn den Bug des Schiffs. Trotzdem bugsiert uns der Kapitän der Nörröna punktgenau an die Pier von Thorshavn auf den Färöer-Inseln. Ein paar Menschen und Autos werden aus-, ein paar andere eingeladen und schon geht's weiter quer über den Nordatlantik, Kurs 320°. Kurz nach Thorshavn reißt der Himmel auf und wir können noch ein paar kurze Eindrücke dieser abgelegenen, bizarren Inselgruppe erhaschen.
Am nächsten Morgen haben wir sogar die zwei Stunden Verspätung aufgeholt, mit der wir in Hirtshals (Dänemark) gestartet waren. Auf die Minute genau machen wir in dem winzigen Hafen von Seydisfjördur an der äußersten Ostküste Islands fest. Es ist das Ereignis der Woche: die Fähre ist da. Tausende von Autos und Menschen werden ausgeladen. Tausend andere warten ungeduldig, bis sie endlich an Bord gehen dürfen. Der idyllische Ort mit gerade siebenhundert Einwohnern platzt aus allen Nähten.
Trotzdem fühle ich mich willkommen, auch - oder gerade wegen der Zollabfertigung. Natürlich lassen es sich die Zöllner nicht nehmen, das große graue Monster (meine Lady Grey) zu durchsuchen. Obwohl ich viel zu viel Fressalien an Bord habe (erlaubt sind drei Kilogramm !!!), haben sie nichts zu beanstanden und wünschen mir eine gute Fahrt!
Die Seydisfjördurianer haben auch an alles gedacht: es gibt eine Bank, bei der man Geld wechseln kann ... und es gibt einen Supermarkt, der mit all den Touris heute natürlich den Umsatz der Woche macht! Ach ja, eine Kirche gibt's auch noch ...
Vom Hafen aus geht's erst einmal gehörig nach oben. Der Pass auf der Fjardarheidi kann mit stolzen 580 Metern aufwarten. Heroben ist alles anders, öde, felsig, windzerzaust. Welch ein Unterschied zu den grünen Feldern rund um Seydisfjördur! Noch vor dem Erreichen der populären und vielbefahrenen Ringstraße Hringvegur No.1 biege ich gleich links ab und erkunde erst einmal die Ostfjorde. Die Straßen sind gut, die Pässe moderat und die nächsten Ortschaften gut ausgeschildert. Wären ihre Namen doch nicht solche Zungenbrecher!
Der nächste Morgen bringt zunächst wieder dicken Nebel, der hinter dem felsigen Kap Hvalnes aber schon wieder der Sonne Platz macht.
Gemächlich und mit vielen (Foto-)Pausen rollen wir die gut ausgebaute Ringstraße an der Südostküste entlang. Ab und an grüßen einsame Farmen vom Fuß der Berge, manchmal schmiegt sich die Straße selbst dicht an den Fels. Hinter jeder Kurve lauern neue bizarre Felsgebilde. Ich kann mich kaum sattsehen an so viel Neuem.
Schwupps, da ist es passiert!
Pass doch auf: Malheur am zweiten Tag [ISL] Pass doch auf: Malheur am zweiten Tag
Eine halbe Sekunde nicht aufgepasst, schon hat's gescheppert! Sche...!!! Und das schon am zweiten Tag! Kannst Du nicht aufpassen, Kerle!!! So ein Mist!!!
Was ist passiert? Die Brücken über die vielen Flüsse und Flüsschen sind des wenigen Verkehrs wegen nur einspurig gebaut, aber links und rechts mit soliden Leitplanken versehen. Einer dieser Planken bin ich wohl etwas zu nahe gekommen. Das Auspuffrohr, das seitlich noch ein gutes Stück über die Reifen hinausragt (eine echte Fehlkonstruktion, liebe MAN!), ist hängengeblieben und baumelt nun windschief an einer völlig verbogenen Halterung. Und die hat gleich noch das komplette Verteilerventil am Druckluftkessel abgerissen. Im Cockpit leuchten zwei ätzend rote Lampen und nach dem Aussteigen begrüßt mich ohrenbetäubendes Pfffffffffffffffft.
Was nun? Die nächste Stadt ist fünfzig Kilometer entfernt und hier draußen hat sicher keiner ein passendes Ersatzteil! Erst mal schauen, ob die Lady noch fährt. Ja, tut sie, eigentlich ganz normal! Bremsen geht auch, wenn auch langsamer als sonst. Zur Not tut's eben die Handbremse!
Also ganz langsam weiterfahren ...
Zwar fährt das schlechte Gewissen immer mit, aber es geht vorwärts und mit viel Vorsicht (im wahrsten Sinne des Wortes) werde ich am Sonntag tatsächlich Reykjavik und die MAN-Werkstatt erreichen. Montag früh werden sich zwei hilfsbereite und clevere Mechaniker der Lady annehmen, den Auspuff geradebiegen und ein neues Verteilerventil einsetzen. Fertig. Die Rechnung wird selbst für isländische Verhältnisse überschaubar!
Noch einmal Glück gehabt!
Noch aber ist der Auspuff krumm und ein Bremskreis defekt. Die Fahrerei geht trotzdem ganz passabel. Den Umweg über Landmannalaugar, eine ausgesprochen hübsche Wandergegend und den Abstecher zum nicht weniger sehenswerten Pórsmörk aber muss ich wegen der steilen Pass- und Bergstraßen der Vernunft opfern. Sein Schicksal sollte man nicht zu sehr herausfordern! Die wichtigsten Highlights im Süden sind aber problemlos erreichbar.
Eisberg voraus: der Süden [ISL] Eisberg voraus: der Süden
Im Jökulsárlón, einem sage und schreibe sechshundert Meter tiefen Gletschersee kalbt der mächtige Breidarmerkurjökull, ein Gletscher und Nebenarm des riesigen Vatnajökull, der fast ein Sechstel der Landmasse Islands bedeckt. Die Eisschollen oder besser Eisberge dümpeln dann bis zu sechs Jahre im See, müssen sich von Touristen in Spezialanzügen und winzigen Amphibienbooten begaffen lassen, bevor sie die Lagune verlassen und aufs offene Meer hinaustreiben - noch immer als riesige Eisschollen, die jedem nicht zu großen Schiff gefährlich werden können. - Übrigens: die Eisschollen halten sich auch im Gefrierfach recht gut und geben jedem Drink einen ganz speziellen Touch!
Ein paar Kilometer weiter heißt das gleiche beeindruckende Schauspiel dann Fjállarlón. Der Gletscher ist der gleiche, die Eisschollen um eine Winzigkeit kleiner, dafür tummeln sich kaum Touristen am wenig bekannten kleineren Bruder.
Nupsstadur, der Grund für den nächsten Stopp ist um viele Tausend Tonnen kleiner, aber fast ebenso sehenswert. Ein winziges Kirchlein auf einer Farm, dahinter die Grabsteine der Familie aus den letzten fünf, sechs Generationen. Eine kleine Zeitreise in vergangene Jahrhunderte. Und ein trefflicher Beweis, wie sehr die Isländer Ihrem Land verbunden sind!
Trotz Sonntag wird der Verkehr immer dichter, je weiter ich mich der Hauptstadt Reykjavik nähere. Fast könnte man es einen isländischen Stau nennen, wenn vier, fünf Jeeps hintereinander herfahren. Apropos Jeep: Woran erkennt man eigentlich den Touristen vom Kontinent? Nun, daran, dass er mit einem kleinen zweiradgetriebenen Fahrzeug auf unbefestigten Wegen herumfährt! Sowas würde ein Isländer nie tun; dafür hat er seinen Acht-Zylinder 4x4!
Nachdem die Reparatur in Reykjavik schneller als erwartet über die Bühne ging, warum keinen Abstecher zu dem Highlight jedes Island-Besuchs machen: der Blue Lagoon. Knapp fünfzig Kilometer südwestlich der Hauptstadt, mitten in einem riesigen Lavafeld gelegen, das gleichzeitig abschreckende Umgebung wie Ursprung der heißen, silikathaltigen Quellen ist. Das Wasser soll gut für die Haut sein, für den Eintrittspreis aber könnte ich mir lässig drei neue Häute besorgen! Dafür wird neben dem milchig weißen Wasser noch einiges geboten: eine Bar direkt am Poolrand, drei Animateure, die die Vorzüge und Hintergründe der Quellen schildern. Dazu Massagen, ein ganzes Wellnessprogramm, wofür dann aber stolze 375 Euro zu berappen wären ....
Genug der Touris, ab ins Zentrum der Insel! Wo es wieder neue Touris gibt: klar, der Wasserfall Gullfoss steht genauso auf der Liste der größten Sehenswürdigkeiten im sogenannten Golden Circle wie die Blue Lagoon.
Um ein Haar ist dieser imposante, einunddreißig Meter hohe Fall in den 20-er Jahren der Wasserkraft-Lobby entronnen, die hier partout einen riesigen Staudamm bauen wollten. Dem Landeigentümer, einem Mr. Thómasson und seiner Tochter sei Dank, dass wir ihn heute noch bewundern können!
Jetzt kann ich aber wirklich keine Touris mehr sehen!
Hochlandquerung, zum ersten [ISL] Hochlandquerung, zum ersten
Eine unübersehbar große Tafel warnt vor den mannigfaltigen Gefahren der Straßen im Hochland, das gleich hinter dem Gullfoss beginnt. Bitte nicht mit zweiradgetriebenen Fahrzeugen befahren! Mit Allradfahrzeugen ausschließlich mit richtiger und vollständiger Ausstattung sowie aktuellen und vollständigen Informationen über Wetter und Straßenzustand! - Das alles in vier Sprachen, so dass es wirklich jeder versteht!
Das ist genau der richtige Ort für mich! Also Wasser- und Dieselvorräte checken und ab nach Norden ... Die Straße wird zur Piste, die Piste zur Rubbelpiste, die Rubbelpiste zur Ansammlung von Schlaglöchern und Felsblöcken. Noch immer kommen mir ganz normale PKWs ohne jede Ausstattung entgegen! Die Mehrzahl aber sind aber doch Allradfahrzeuge: isländische Leihwagen, wie unschwer zu erkennen ist. Es herrscht ein Verkehr wie in München zur Rushhour! Selbst vielsagende Verkehrsschilder können die Massen nicht abhalten!
Kaum habe ich den höchsten Punkt der Kjölar-Route erreicht, bläst mir ein eisig kalter Nordsturm entgegen, der das Thermometer knapp über der Null-Grad-Marke einfriert. Der kommt wohl ohne Umwege direkt vom Nordpol! Jedenfalls muss ich mich - trotz geheiztem Fahrerhaus - dick einmummeln!
Vielleicht vertreibt er ja auch die Wolken, die sich letzte Nacht über den Gletschern Langjökull und Hofsjökull bildeten. Der Sturm bläst zwei weitere Tage in Orkanstärke! Erst als ich in den Windschatten der nördlichsten Halbinsel Horstrandir erreiche, lässt er etwas nach. Trotz der frostigen Temperaturen scheint meist die Sonne.
So, jetzt habe ich wenigstens einmal das Hochland durchquert. War jetzt nicht wirklich das große Abenteuer, das ich mir erhofft hatte! Aber ich habe ein besseres Gefühl, womit im Hochland zu rechnen ist und freue mich schon auf die zweite Durchquerung etwas weiter östlich.
Willkommen in den Westfjorden. Willkommen im Land der kleinen Umwege ... Willkommen im ältesten Teil Islands! Schon seit zwölf bis dreizehn Millionen Jahren existiert diese Ecke der Insel, manche sprechen sogar von zwanzig Millionen Jahren. Alle anderen Teile Islands wurden erst später 'angebaut'. Durch die größten Baumeister der Natur: die Vulkane. Der bisher letzte, wenn auch kleine 'Anbau' ist die Insel Surtsey ganz im Süden der Hauptinsel, gebaut im November 1963 direkt unter den Augen der staunenden Insulaner!
Die Fjorde hier oben sind mächtig tief ins Land eingeschnitten. Die einzige (gut präparierte) Piste folgt im Norden brav der Küstenlinie (fjordeinwärts - Kurve - fjordauswärts - Kurve - fjordeinwärts ...) - im Süden überspringt sie manche Bergkette als abenteuerliche Passstraße (Fjord - aufwärts - Passhöhe - abwärts - Fjord - aufwärts - Passhöhe - abwärts - Fjord ...). Und das Ziel dieser ganzen Achterbahnfahrt? Tja, Ziel ist die westlichste Ecke Europas, die Klippen von Látrabjarg!
Mit Blick auf Grönland. Mit schreienden Möwen und possierlichen Papageientauchern, die hier nisten.
Mit der Gewissheit, dass niemand in Europa weiter im Westen steht. Oder in Amerika ??? -
Jedenfalls eine wunderschöne Ecke ... mit einem ruhigen Camp zum Tagebuch schreiben ...